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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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verschränkte die Arme und starrte ins Gras. Das weite, fremde moralische Land, an dessen Rand Ritchie sie geführt hatte, erschreckte sie. »Du hast mir wehgetan, und ich muss deshalb leiden und du nicht?«, sagte sie. Sie runzelte die Stirn. »Das ist ungerecht.«
    Sie war traurig und müde, und die Welt war eine schwere Last. Um weiterzugehen, schien ihr, um die Füße zu heben, ja allein um zu atmen, musste sie sich dem ungeheuren Druck der Schwerkraft widersetzen, dem ganzen erdrückenden Gewicht des Himmels in einer Existenz, die auf nichts anderes aus war, als den Menschen wie Oliven auch noch den letzten Tropfen Freude auszupressen.
    »Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Was soll das? Warum leben wir, wenn wir uns gegenseitig so schlecht behandeln, wie du mich behandelt hast? Was soll denn Liebe bedeuten, wenn mein eigener Bruder mich verrät? Wir sollten zu etwas Besserem fähig sein.«
    »Das sind wir!«, sagte Ritchie eifrig. » Du bist dazu fähig. Du kannst dich darüber erheben. Eine solche Gelegenheit, mir zu zeigen, dass die Menschen nicht nur für sich selbst da sind, kriegst du nie wieder. Ich gebe dir die Gelegenheit, mir zu vergeben und mir damit zu zeigen, was echte menschliche Güte ist.«
    Er fühlte ein scharfes Brennen auf der Wange. Bec hatte ihm eine Ohrfeige gegeben.
    »Wieso fühlen sich alle berechtigt, mich zu schlagen?«, brüllte er.
    Bec, die Ritchie instinktiv geschlagen hatte, ähnlich wie sie mit der flachen Hand auf ein defektes Gerät geschlagen hätte, um es wieder zum Laufen zu bringen, sagte: »Wenn ich schweige, wirst du nie deine Strafe bekommen.«
    »Meinst du nicht, dass ich an diesem Beweis deiner moralischen Überlegenheit für den Rest meines Lebens leiden werde?«
    »Nein.«
    »Ich kenne dich besser als du mich. Du wirst es niemand erzählen. Du kannst gar nicht anders. Du bist zu gut.«
    »Du bist widerlich«, sagte Bec. »Ich habe dir so sehr vertraut, mein ganzes Leben lang.«
    »Wenn du eigene Kinder hättest, würdest du mich verstehen«, sagte Ritchie.
    »Die werde ich haben«, sagte Bec. Sie machte sich auf den Weg den Hügel hinunter.
    »Warte«, sagte Ritchie mit erhobener Stimme, als seine Schwester sich entfernte. »Ich kann nicht auftreten.«
    Bec drehte sich nicht um, hielt keinen Moment inne. Ritchie kroch ihr auf Händen und Knien hinterher. An einem der Grabsteine stemmte er sich in die Höhe.
    »Wer ist der Vater?«, schrie er.
    »Ich weiß es nicht!«, erscholl die Stimme seiner Schwester von der Straße. Sie stieg in ihr Auto. »Beide!«
    71
    Als Bec am Abend zurückkam, war Alex zu Hause. Sie erzählten sich von den Begegnungen mit ihren Brüdern. Alex hatte gebratenes Hähnchenfleisch gekauft und einen Salat gemacht, und sie aßen still miteinander. Bec wunderte sich, wie leicht das Gespräch von den Dingen abschweifte, über die sie eigentlich hätten reden müssen, und wie unbeschwert sie sich über die Schritte zur Entbindung und zum Mutterschaftsurlaub unterhielten und darüber, ob es für Alex an der Zeit war, ein Buch zu schreiben. Sie waren sanft und geduldig miteinander. Es gab keine der üblichen Unterbrechungen von ihr oder Versunkenheiten von ihm. Doch als sie gemeinsam die Spülmaschine einräumten, berührte er mit der Handkante ihr Handgelenk und sagte »Entschuldige« und wurde rot, als ob sie Fremde wären.
    Sie hatten Angst vor der Nacht. Sie hatten Angst davor, was die Moral Foundation am nächsten Tag schreiben würde, und sie hatten Angst vor dem Schlafzimmer, vor dem Akt, die Konditionen der Intimität neu auszuhandeln.
    Nach dem Essen ging Alex in sein Arbeitszimmer, und Bec versuchte, einen Film zu gucken. Sie fühlte sich allein. Früher hätte sie in so einer Situation Ritchie angerufen. Sie wollte nicht mit ihren Freundinnen reden, schon gar nicht mit ihrer Mutter, ehe sie nicht wusste, was die MF sagen würde.
    Während sie, in die Sofaecke gequetscht, die Gesichter auf dem Bildschirm nur wie im Nebel und den Ton nur als Rauschen wahrnahm, konnte sie an nichts anderes denken als daran, wie Alex am Tag davor in der Küche auf den Fußboden gesunken und vor ihr zurückgewichen war. Er irrte sich, dachte sie: Sie wollte nicht, dass er wütend auf sie war, und er sollte es auch nicht sein. Was sie getan hatte, hatte sie seinetwegen getan. Sie nahm um seinetwillen die Schmerzen auf sich, doch seine größte Sorge galt nicht ihr oder ihrer gemeinsamen werdenden Familie; sie galt ihm selbst, der sich fragte, ob er es wert

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