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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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die Schultern spazierengingen und erzählten, die unangenehme Erfahrung, dass ihre Zuneigung plötzlich auf einer Stufe stand mit solchen flüchtig auftauchenden Fragen wie der Verbreitung beinloser Tauben, der Bedeutung von Buchstaben auf Gullydeckeln, der sozialen Relevanz von Kordsamt oder der veränderten Gestaltung von Kfz-Kennzeichen. Falls die Beziehung das überstand, machte die Frau die Entdeckung, wie selbstverständlich Alex, wenn ihm danach war, das Zusammensein mit ihr auf das rein Funktionale reduzierte, damit er sich auf den kippligen Bogen biomathematischer Bausteine konzentrieren konnte, den er im Kopf konstruierte. Er arbeitete am besten, wenn ein kleiner Teil seines Verstandes mit einer gleichmäßigen, eingespielten körperlichen Tätigkeit beschäftigt war, mit dem Radeln auf einer bekannten Strecke etwa oder mit Fingerschnippen. Das Trommeln verschaffte Alex nie die temporäre Persönlichkeit des selbstvergessenen Künstlers, die er sich erhoffte, aber als koordinierte Form des Zappelns half sie ihm denken.
    Nach Ritchies Weggang hielten sich die Gorse noch ein paar Wochen. Das Studium fraß Alex viel Zeit weg, und er hörte auf zu üben und verließ dann die Band. Ritchies Aufstieg zum Ruhm war steil. Die beiden Männer hätten sich aus den Augen verloren, wenn Ritchie nicht die Verbindung gehalten und wenn Alex nicht Bec kennengelernt hätte.
    Alex war fünfundzwanzig und hatte gerade seine Promotionsurkunde bekommen, Bec war sieben Jahre jünger und hatte ihr Studium in Cambridge angefangen. Ritchie machte sie nebenbei miteinander bekannt, ohne sich mehr dabei zu denken, als dass allgemeines wissenschaftliches Gelaber bestimmt so prompt zwischen ihnen fließen würde wie Strom durch ein angeschlossenes Kabel. Er vergaß, dass seine Schwester kein Schulmädchen mehr war. Er spürte bei anderen eine gewisse Erregung und war doch blind für das Interesse der Männer an seiner achtzehnjährigen Schwester. Die Wahrnehmung, die er von ihr hatte, hinkte mehrere Jahre hinter der leibhaftigen Bec her. Unbewusst nahm er die Fülle ihrer Brüste und die Rundung ihrer Hüften als eine Art späte Kinderkrankheit wahr, Geschwülste, die sich an der Vierzehnjährigen gebildet hatten und irgendwann zurückgehen würden, bis sie wieder vierzehn war. Er übertrug sein fehlendes sexuelles Interesse an ihr großzügig auf die restliche Männlichkeit.
    Als sie mit siebzehn einmal im T-Shirt losziehen wollte, hatte er sie darauf hingewiesen, dass sie sich von Karin Armreifen ausleihen konnte, und weil sie so verständnislos guckte, hatte er gebrabbelt: »Heute geht doch keine mehr mit nackten Armen vor die Tür.« Die Narben an ihrem Handgelenk würden die Leute nervös machen, dachte er. Die Leute würden sie für eine halten, die sich ritzt, und sich fragen, ob das vielleicht in der Familie lag.
    Der bittere Geruch ihrer verbrennenden Haut, begleitet von einem starken, klaren und unzweideutigen Schmerz, hatte der kleinen Bec das Herz erleichtert, als sie wütend mit ihrem Vater haderte, weil er gestorben war und sie zwang, ihn in der Einsamkeit seiner letzten Stunde zu bemitleiden. Sie kriegte früh mit, dass es ein perverses Vergnügen bereiten konnte, junge Haut zu verschandeln. Aber die Narben waren nicht tief oder schartig, als sie zu studieren anfing, und auch nicht so auffällig, wie sie Ritchie erschienen. Bec registrierte kaum, dass sie da waren; ihr ordentliches Aussehen war ihr peinlicher als die Tatsache ihrer Existenz.
    Alex hatte sich gewundert, dass er zu der Party eingeladen wurde, mit der die Lazygods die Veröffentlichung ihres zweiten Albums Windfallen feierten. Im Laufe der letzten sieben Jahre hatte er seine Erinnerungen an den jungen Ritchie von einst dem Star angeglichen, zu dem sein Freund geworden war. Er hätte, fand Alex, Ritchies Talent von Anfang an erkennen müssen. Er hatte Ritchie als selbstbewusst, energisch und großzügig im Gedächtnis. Wenn ihm außerdem seine mittelmäßige Stimme, sein schrummelndes Gitarrenspiel und seine Schwierigkeiten mit dem Schreiben von Songs einfielen, dann schien es ihm, dass er, Alex, mit seinem Urteil danebenliegen musste und nicht die Millionen, die Fountain gekauft hatten. Als Alex das regelmäßige Trommeln aufgab, um ein biomathematischer Entdeckungsreisender durch die unerforschte menschliche Zelle zu werden, und Ritchie das Studium an den Nagel hängte und einen Plattenvertrag bekam, schien es ihm, nun wären sie in Welten eingetreten,

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