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Liebe und andere Parasiten

Liebe und andere Parasiten

Titel: Liebe und andere Parasiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Meek
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Als er sich erinnern konnte, gab er ihr eine abgeschwächte Version der Gräuel, verschwieg allerdings die zerstückelten Leichen von ihr und den Kindern, an einer Straßenecke neben den Mülltonnen zu einem ordentlichen Haufen gepresst und mit Schnüren umwickelt wie alte Zeitungen. Oder das Grauen kam ohne konkrete Gestalt, und er fühlte sich einer unbarmherzigen Kraft ausgeliefert, die so allmächtig wie formlos war.
    Am schlimmsten waren die Nächte, in denen er angenehm oder gar nicht träumte, erinnerungslos aufwachte und dann spürte, wie die Angst vor der Bloßstellung in ihm Gestalt annahm; es war, als bliebe sie ihm in der Kehle stecken wie eine Schachtel mit spitzen Ecken.
    Nach und nach weichte die Säure der Zeit die Ecken auf. Mit jedem Monat, der nach dem Treffen mit Val ins Land ging, ließ die Stärke des Eindrucks nach, obwohl dasselbe Vergehen der Zeit, schien es ihm, unweigerlich den Augenblick näher brachte, in dem er als Schwindler und Sexualverbrecher entlarvt und ihm seine Familie, sein Zuhause und seine Arbeit genommen wurde.
    Ritchie trank. Eine Flasche starker Rotwein und drei Finger Whisky waren die normale abendliche Ration. Dazu erging er sich in Vorstellungen, wie Val sterben könnte. In den ersten Wochen nach dem Treffen mit dem Zeitungsmann näherte er sich in zaghaften Schritten dem Gedanken an Mord an. Er wünschte, Val würde nicht existieren; er hasste Val; Val hatte es nicht verdient zu leben; wie viel besser, er wäre tot! Aber wie ihn auf eine Weise töten, bei der absolut garantiert war, dass Ritchie niemals damit in Verbindung gebracht wurde? Es war unmöglich. Val war bis obenhin voll Blut, und das überbevölkerte England war bis obenhin voll Zeugen. Und wenn sich nun herausfinden ließe, wann Val irgendwo im Ausland Urlaub machte, wo man billig und anonym einen Killer anheuern konnte? Die Karibik vielleicht. Ohne zu wissen, ob Val je in die Karibik fuhr, tippte Ritchie die Worte »Barbados« und »Killer« bei Google ein und drückte auf Enter. In dem Sekundenbruchteil, den die Suchmaschine für die Ergebnisse brauchte, erkannte er, dass er sich selbst belastet hatte. Das Projekt, einen anderen Menschen zu ermorden, und sei er auch so abscheulich wie Val Oatman, war zu komplex und zeitraubend. Es glich zu sehr dem gestaltlosen Grauen seiner diffuseren Albträume.
    Eines Abends beim Essen fragte Karin ihn, was los sei, und er merkte, dass er die Augen fest zugekniffen und die Zähne gebleckt und zusammengebissen hatte, weil ihm aufgegangen war, dass er demnächst einen Mörder treffen würde, O’Donabháin, und ohne dass er es verhindern konnte, war der Gedanke in ihm aufgestiegen und so dicht an die Oberfläche gekommen, dass er beinahe die Form der gesprochenen Worte annahm: Er könnte es tun. Er ist mir einen Gefallen schuldig, nachdem er Dad getötet hat . Die Grimasse, die er vor Karin und den Kindern zog, war das Mindeste, was er herauslassen musste. Lieber wäre er aufgestanden und hätte die Decke angeheult. Noch lieber wäre er mit einem Satz aus sich selbst herausgesprungen wie ein Mann, der vor einer Giftschlange wegspringt. Es war ihm unerträglich, dieser Ritchie zu sein.
    Von da an beschränkte er sich auf Fantasien, in denen Val einen Herzanfall hatte oder einen Autounfall oder in einem Flugzeug saß, das abstürzte. Es war unwahrscheinlich, aber so was passierte. Warum sollte es Val nicht passieren? Eines Abends vor dem Zubettgehen stieg Ritchie die Stufen zu seinem Atelier hinauf, und statt das Licht anzuschalten, zündete er eine Kerze an. Im Schein der Flamme kniete er sich auf den Boden, faltete die Hände, hob das Gesicht und flüsterte:
    Vater unser,
    der du bist im Himmel,
    geheiligt werde dein Name.
    Dein Reich komme.
    Dein Wille geschehe,
    wie im Himmel, also auch auf Erden.
    Erlöse uns von dem Bösen.
    Erlöse uns von Val.
    Denn dein ist das Reich
    und die Kraft
    und die Herrlichkeit
    in Ewigkeit.
    Amen.
    Er stand auf und blies die Kerze aus. »Danke«, fügte er in der Dunkelheit noch hinzu.
    Entgegen seinen Befürchtungen war Rubys Forderung, ins Fernsehen zu kommen, eine Nuss, die zu knacken ihm Spaß machte. Ritchie vergaß, dass Ruby ihn mit ihrem Wissen um das Telefon dazu erpresst hatte, gegen seinen Willen zu handeln. Als intime Angelegenheit, als Chance, seiner Familie zu zeigen, wie geschickt und effektiv er bei Rika-Films Belohnungen, Entschiedenheit und Überzeugungskraft einsetzte, konnte er dem Projekt etwas abgewinnen. Er

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