Liebe und Gymnastik - Roman
wirklich leid. Und sie sagte es, den Blick zu Boden gerichtet, als ob sie einem Gedanken nachhinge. «Das tut mir leid.» Dann setzte sie hinzu: «Ich habe aber keine Schuld daran.»
«Das ist ja das Schlimme!», entgegnete der Ingenieur lachend. «Denn wenn Sie Schuld hätten, wären Sie gezwungen, Wiedergutmachung zu leisten. Und dann … sehen Sie selbst, wie viel Positives das haben könnte. Der Sekretär würde nicht den Kopf verlieren, der Commendatore würde seinen Sekretär nicht verlieren … Der arme Sekretär! Ein goldenes Herz im Grunde, ein ehrbarer Mann, das beste Exemplar eines verkrachten Abbé, das Gott je in diese Welt gesetzt hat. Er hat nur das Pech, dass er … die Vollkommenheit der Formen anstrebt; Vollkommenheit der Formen und Vollkommenheit überhaupt erreichen aber bekanntlich nur die Auserwählten.» Hier lachte er auf. «Ah, welches Wunder! Wenn man bedenkt, dass Sie Don Celzani dazu gebracht haben, über den Bock zu springen!»
Die Maestra überlegte.
«Genug», fuhr Ginoni fort, «wenn er nur nicht vom Bockspringen zum Sprung in den Po übergeht!»
«Oh, Herr Ingenieur!», sagte die Pedani mit einem Lächeln, aber doch auch beunruhigt. «Signor Celzani ist nicht der Mann, der so etwas tut.»
«Ach, Signorina», erwiderte Ginoni, «selbst der an sich sanfteste und vernünftigste Mensch der Welt ist doch nur wie Wasser in einem Glas: Ob es überläuft oder nicht, hängt von der Stärke des Brausepulvers ab, das die Leidenschaft da hineinbringt.»
Nach diesen Worten verabschiedete er sich, und sie stieg nachdenklich die Treppe hinauf.
Doch schon bald waren diese Gedanken verflogen, weil die sie beherrschende Leidenschaft in diesen Tagen mächtige Nahrung erfuhr, und zwar durch die Nachrichten, die Stunde um Stunde von den großen Feierlichkeiten rund um das Turnfest in Frankfurt eintrafen. Jede Zeitung, die ihr neue Einzelheiten lieferte, fachte ihre Begeisterung weiter an. Sie sah das Eintreffen der Delegationen in der Stadt, den Empfang durch den Bürgermeister und eine riesige Menge von Bürgern; sie sah den großen Triumphzug von vierzehntausend Turnern aus aller Herren Länder, Jünglinge, weißhaarige Männer, Männer in der Blüte ihrer Jahre, Hunderte von Bannern schwingend, begleitet von zweitausend Sängern aus verschiedenen Gesangsvereinen, wie sie durch die mit Fahnen geschmückten Straßen zogen, unter Triumphbögen hindurch und im Blumenregen; sie sah die riesengroße Turnwiese mit der Kolossalstatue der Germania, zahllose Geräte und zwanzigtausend Zuschauer, die diesen Wundern an Kraft, Geschicklichkeit und Mut Beifall spendeten; sie stellte sich die maskuline Gestalt Mellers 34 vor, Gewinner des ersten Preises, der unter frenetischem Jubel des Volkes seine Eichenlaubkrone schwenkte; sie malte sich diese Heerscharen von froh gestimmten Menschen aus, sich überall in der alten Reichsstadt tummelnd, wo auf Schritt und Tritt das Porträt des Turnvaters Jahn zu sehen war, in schöner Eintracht unter die Einwohnerschaft der Stadt gemengt, um die berühmtesten Gymnasiarchen geschart, um Schriftsteller, Gelehrte, Ärzte, Reformatoren, in zwanzig verschiedenen Sprachen über all das sprechend, was sie liebte und bewunderte, allesamt beseelt von der Idee einer Erneuerung der menschlichen Rasse, von dem Hauch von Jugend und Größe, der in der Luft lag wie bei einem der großen Schauspiele der Antike in Korinth oder Delphi. Oh, wie schön und groß das alles war! Die Vorstellung, in ihrem bescheidenen Rahmen auch nur ein wenig zur Vorbereitung ähnlicher Tage im eigenen Land beitragen zu können, indem sie den Glauben an die wunderbaren Wirkungen der Leibeserziehung verbreitete und andere dazu anregte, diese Disziplin wie das Evangelium einer Neuen Zeit zu verkünden, entflammte ihre Seele, brachte sämtliche Fähigkeiten zum Leuchten und verdreifachte ihre Arbeitskraft. In diesen Tagen arbeitete sie gerade für den nächsten Nationalkongress der Volksschullehrer, der in Turin stattfinden sollte, eine Rede zu diesem Thema aus. Und nachdem eine Reihe verschiedener, im «Campo di Marte» erschienener Aufsätze, worin sie für die Einrichtung einer Einheit freiwilliger Feuerwehrfrauen in allen Großstädten plädierte, großen Erfolg gehabt hatte, schickte sie sich an, in der Aula der «Scuola Archimede» zu diesem Thema einen Vortrag zu halten. Unterdessen erhielt sie von vielen Seiten Zuspruch, Glückwünsche, Vorschläge und Fragen von begeisterten Gymnastikliebhabern, und
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