Liebe und Marillenknödel
Erschöpfung einen Augenblick lang vergesse und mir ein höchst gewagter, unglaublich wilder, total verrückter Gedanke kommt.
» Wissen Sie was«, sage ich, » ich hole mir auch ein Glas. Und dann stoßen wir darauf an, dass es so etwas wie Schnaps gibt.«
» Und Bier!«, ruft mir Herr Höfler hinterher und schenkt sich selbst schon mal nach.
Ach, er hat recht. Das Leben macht doch nur dann Spaß, wenn man Versuchungen auch einfach mal erliegt.
Als ich wieder aus dem Haus trete, hat sich ein Mann mit strubbeligem Haar zu den beiden gesellt. Er steht mit dem Rücken zu mir, sodass ich nur sehe, dass er Jeans und einen olivgrünen Armeeparka trägt und einen riesigen grauen Rucksack neben sich abgestellt hat, und dass Frau Höfler kichert und ihre graublonden Haare mädchenhaft nach hinten wirft.
» Hier kommt das Glas«, rufe ich und nähere mich der Gruppe.
» Ah!«, sagt Frau Höfler und nickt in meine Richtung. » Da ist sie ja wieder!«
Der Armeeparka dreht sich lachend um und sagt: » Krieg ich zum Empfang auch ein Schnapserl?« Dann versteinert sein Gesicht.
Ich versteinere auch. Aber nicht nur im Gesicht, sondern ganzkörperlich.
Dann höre ich ein Klirren, das klingt, als sei die Sonne vom Himmel gefallen und in tausend Scherben zersprungen.
Ich sehe den Typen an, dann geht mein Blick zu Boden. Dann schaue ich ihm wieder ins Gesicht.
Wir sagen nichts, bestimmt eine Minute lang. Da ist nur etwas, das in meiner Kehle auf- und abhüpft.
» Was ist denn?«, mischt sich Frau Höfler ein. » Ist was mit Ihnen?«
Ich schüttle den Kopf, doch das ist eine Lüge. Eine Lüge, die nicht nur lange Beine hat, sondern quasi auf Stelzen schreitet.
Erst, als ich ein paar Treppenstufen nach oben gegangen bin, fällt mir ein, dass es vielleicht keine ganz so gute Idee war, ihm voranzumarschieren. Wenn ich die Lage richtig einschätze, ist mein Hintern jetzt ziemlich genau auf seiner Augenhöhe.
Total peinlich. Wenn Pos rot werden könnten, dann wäre das der richtige Zeitpunkt dafür. Was für eine Situation. Ich meine, wer hat sich schon mal einem Menschen in aller Form vorstellen müssen, der einen bereits splitternackt gesehen hat? Womöglich sogar, äh, von unten?
» Ich bin Nick«, hat der Typ vorhin mit ausdrucksloser Stimme gesagt, nachdem wir uns gefühlte Sternjahre lang angeglotzt hatten. » Nikolaus Thaler.«
» Sophie«, sagte ich und streckte ihm meine Hand entgegen. » Von Hardenberg.«
» Oh«, erwiderte er.
Keine Ahnung, was er damit meinte. Trotzdem beschloss ich, lieber nichts mehr zu sagen. Wir sagten beide nichts. Erst, als Frau Höfler den Wunsch äußerte, sich hinzulegen, und wissen wollte, wo ihr Zimmer ist, konnte ich mich wieder bewegen. Ich bat Nick, unten zu warten, und habe erst die Höflers nach oben gebracht, dann ihn zu Giannis ehemaligem Zimmer.
Ich bleibe vor der Tür stehen und drehe mich um, und – was soll ich sagen? Da steht er. Johannes. Der Typ mit der Nase.
Ich fühle mich fast so, als stünde ich wieder nackt vor ihm. Mein Blick trifft seinen, und wir wenden unsere Augen zu Boden.
» Hier ist dein Zimmer«, sage ich mit möglichst cooler Stimme. » Dein Vorgänger ist Hals über Kopf abgereist und hat den größten Teil seiner Sachen dagelassen. Wenn du irgendwas davon gebrauchen kannst, greif zu, ansonsten werd ich dir ein paar Kisten besorgen, damit du das Zeug aus dem Weg hast.«
Mein Blick wandert zwischen meinen und seinen Schuhen hin und her, und ich versuche krampfhaft, mich daran zu erinnern, ob wir unsere Namen wussten, als wir miteinander ins Bett gesprungen sind, oder ob wir es einfach so getrieben haben, ohne Einhaltung der üblichen Vorstellungs- und Begrüßungsriten. Unmöglich wäre es nicht, und wenn ich mich an den Abend richtig erinnere, war Sarah schon im Bett, als wir uns kennengelernt haben.
» Okay«, sagt er.
» Du wirst dich sicher erst mal frisch machen wollen«, sage ich. » Die Bäder sind da drüben. Wenn du fertig bist, melde dich. Ich bin dann unten in der Küche.«
» Ich brauch nicht lang«, sagt er mit monotoner Stimme. Ich frage mich, ob er immer noch sauer auf mich ist oder ob ihm die ganze Angelegenheit genauso peinlich ist wie mir.
» Gut«, sage ich. » Je eher wir anfangen, uns ums Abendessen zu kümmern …«
Er murmelt noch etwas, dann bewegen sich seine Schuhe an meinen vorbei in Giannis ehemaliges Zimmer, und die Türe schließt sich. Ich höre seine Schritte und wie er seinen Rucksack in eine Ecke wirft, und muss
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