Liebe und Verrat - 2
führt er uns zur Mitte des Saals. Wie auf Kommando fangen alle wieder an zu reden, erst leise, dann schließlich so laut, als ob nicht bis gerade eben noch ein unbehagliches Schweigen schwer auf allem gelegen hätte.
»Es tut mir leid, dass ihr allein zum Speisesaal gehen musstet.« Er muss fast schreien, um das Stimmengewirr zu übertönen. »Ich dachte, Una würde euch begleiten. Ansonsten wäre ich selbst gekommen.«
»Sie wollte uns abholen«, sage ich, »aber sie meinte, sie wolle vorher noch nach Tante Abigail sehen. Es scheint, als sei sie noch immer nicht erwacht.«
Er nickt mit ernster Miene und ich sehe den Kummer in seinen Augen. Ich bin nicht die Einzige, die sich Sorgen um Tante Abigail macht.
Wir bleiben vor einem langen Tisch direkt unterhalb des Kerzenleuchters stehen. Die meisten Plätze sind bereits besetzt, aber drei Stühle sind noch frei – für uns reserviert, wie es scheint. Einen Moment lang bin ich beunruhigt, dass Luisa nicht neben ihrem neuen Verehrer sitzen darf, aber als sich ein glückseliges Lächeln auf ihrem Antlitz ausbreitet und ich ihrem Blick folge, sehe ich, dass Rhys bereits an unserem Tisch Platz genommen hat. Ich nehme mir vor, Dimitri später zu fragen, ob das Zufall oder Absicht ist.
Eine ältere Frau mit rabenschwarzem Haar erhebt sich. Sie verbeugt sich leicht als Begrüßung und blickt mir mit stahlgrauen Augen ins Gesicht. Ich erkenne in ihr die Schwester, die uns vom Hafen abgeholt hat und uns voraus den Pfad entlanggegangen ist, ehe ich bewusstlos wurde.
»Willkommen auf Altus, Amalia, Tochter von Adelaide.« Ihre Stimme ist tiefer, als ich sie in Erinnerung habe.
Es ist seltsam, den Vornamen meiner Mutter aus ihrem Mund zu hören. Ich glaube nicht, dass ihn jemals jemand vor ihrem Tod in meiner Gegenwart aussprach. Ich brauche ein paar Sekunden, um mich zu fassen.
Dann erwidere ich die Verbeugung. »Danke.«
Dimitri wendet sich mir zu und verbeugt sich ebenfalls, als Teil eines Rituals, von dem ich keine Kenntnis habe. »Lady Ursula und die Schwesternschaft heißen dich willkommen, Amalia.«
Ich erwidere auch seine Verbeugung und fühle mich mit einem Mal scheu und unsicher.
Dimitri wiederholt die kleine Zeremonie mit Luisa und dann werden uns unsere Tischnachbarn vorgestellt. Alles passiert so schnell, dass ich die meisten der Namen gleich wieder vergesse. Rhys’ durchdringende Augen und die Art, wie er Luisa anschaut, werde ich allerdings nicht so schnell vergessen. Er ist ein dunkler Typ, genau wie Dimitri, aber stiller und nicht so versiert im Umgang mit Worten. Vielleicht redet er auch einfach nicht so gerne. Ich muss Luisa unbedingt fragen, worüber sie sich unterhalten, wenn sie zusammen sind, aber andererseits brauchen sie in ihrer Zweisamkeit vermutlich gar nicht so viele Worte. Sie sitzt so dicht neben ihm, dass sich ihre Schenkel unter dem Tisch berühren.
Sobald wir uns gesetzt haben, nehmen auch die restlichen Gäste im Saal ihre Plätze ein. Kurz darauf wird das Essen serviert, und ich kann die schwindelerregende Fülle von Früchten, Gemüse, knusprigem Brot und süßem Wein kaum in mir aufnehmen. Allerdings fällt mir auf, dass es kein Fleisch gibt.
Während das Essen aufgetragen wird, merke ich, wie mich meine Tischnachbarn verstohlen mustern. Ich kann es ihnen nicht verübeln. Wenn ich Dimitris Worten Glauben schenken darf – und das tue ich –, dann haben sie wohl unzählige Fragen, die zu stellen die Höflichkeit verbietet.
Es ist nicht zu übersehen, dass Ursula einen besonderen Rang innehat, aber ich habe während des Essens keine Gelegenheit, Dimitri um nähere Auskunft zu bitten. Sie macht keinen Hehl aus ihrer hohen Position, worin diese auch bestehen mag. Der Diener ist kaum vom Tisch weggetreten, als sie ihre erste Frage auf mich abfeuert.
»Dimitri meint, du hättest eine ziemlich schwierige Reise durchlebt, Amalia.« Sie trinkt einen Schluck aus ihrem Weinkelch.
Ich kaue zuerst die Feige fertig, die ich mir gerade in den Mund geschoben habe, und sage dann: »Ja, es war … aufreibend.«
Sie nickt. »Es scheint, als wärst du jemand, der nicht vor schwierigen und gefährlichen Aufgaben zurückschreckt.«
Ihre Worte an sich klingen wie ein Kompliment, aber etwas in ihrem Tonfall lässt mich ahnen, dass sie ganz und gar nicht so gemeint sind. Ich will Geistesgegenwart beweisen, will die Frage hinter der Aussage erkennen, aber mein Gehirn ist immer noch nicht voll funktionsfähig. Ich beschließe, ihre Worte einfach als
Weitere Kostenlose Bücher