Liebe und Völkermord
behandelt. Sie wollte in Wirklichkeit nur fliehen von dort.“
„ Woher weißt du das?“
„ Ich weiß es nicht, ich konnte es nur ahnen.“
Karim hielt sich zurück. Er dachte, Muhammad sei wohl nicht mehr klar im Kopf. So hatte er seinen Freund nie eingeschätzt. Nun fürchtete er sich schon vor ihm.
„Oder nein, ich habe es für mich getan.“
Karim nickte nur.
„Er hatte mir meine Aische genommen und nun wollte ich ihm seine Fatima nehmen.“
Er runzelte die Stirn und traute sich nicht, ihn das zu fragen, doch dann konnte er sich doch noch dazu durchringen. „Du hast sie also getötet, oder?“
„Nein, das meinte ich nicht. Das hatte ich nicht vor. Sie war geheimnisvoll. Irgendwie ging sie mir nicht mehr aus dem Kopf, seit dem ersten Mal, als ich sie sah. Ich wollte nur noch ihr Gesicht sehen. Als der Agha tot umgefallen war, suchte ich sie in ihrem Gemach auf. Als ich hereinkam, trug sie keinen Schleier.“
Der Freund hörte dem Agha gespannt zu. So neugierig war er nur selten in seinem Leben gewesen. „Ist sie hübsch?“
Muhammad starrte vor sich hin auf den Boden. Er schwieg.
Karim wollte unbedingt wissen, wie die Geschichte weiterging, doch er wollte seinen Freund und Vorgesetzten nicht aufregen.
„Ich wollte sie mit mir mitnehmen. Doch dann konnte ich wieder klar denken und erkannte, dass ich das nicht tun konnte. Ich trage dir hiermit auf, sie mir zu holen. Niemand darf davon erfahren. Wenn sie sich weigern sollte, müsst ihr sie irgendwie überreden. Doch fasst sie nicht an!“
Der junge Karim war überwältigt von den vielen überraschenden Ereignissen. Er wollte sich nicht weiter einmischen in die Vorhaben von Muhammad. Lieber wollte er nicht mehr seinem Freund zureden, er erkannte die Labilität seiner Psyche. Solche Menschen müsste man in solchen Momenten sich selbst überlassen. Sie müssten selbst mit ihren Problemen klarkommen.
Noch nie in seinem Leben erfüllte er einen ihm erteilten Auftrag so gerne.
Nun hatte sie schon eine ganze Woche lang nichts von ihrer Tochter gehört. So oft sahen sich Mutter und Tochter nicht, doch der Briefkontakt zwischen den beiden war stets rege. Es kam auch kein Kurier mehr im Auftrag ihrer Tochter. Das war äußerst seltsam. So machte sie sich persönlich, ohne Begleitung, zum Haus ihrer Tochter und ihres Ehegatten, des neuen Agha, auf.
Im Haus befand sich niemand, als sie ankam. Es war sehr früh am Morgen. Sie schlenderte um das Haus und sah auf der Ostseite das Grab. Sie erschreckte sich. Sie fragte sich, wessen Grab dies sein könnte. War es etwa das Grab ihrer Tochter? Aber wenn ihre Tochter gestorben wäre, hätte sich diese schreckliche Nachricht wie ein Lauffeuer in Mardin verbreitet. Doch nichts davon war bekannt geworden. Das konnte nicht ihr Grab sein, dachte sie.
Sie verharrte eine ganze Weile lang auf dem Grundstück. Es war so ruhig, so idyllisch dort. Keine Menschenseele war zu sehen und auch keine Hunde. Irgendwo in der Ferne zwitscherten Vögel. Von diesen grässlichen beißenden Fliegen wurde man hier verschont. Und trotz der schon zu dieser frühen Stunde sengenden Sonne war es angenehm frisch hier. Hier hätte Farida mühelos den ganzen Tag lang verweilen können.
Nach etwa einer halben Stunde kam ein rot-fleckiger Hund vorbei, er blieb einige Meter vor ihr stehen und fletschte die Zähne. Sie war den Umgang mit den Hunden gewohnt. Sie blieb ruhig und bewegte sich nicht. Nach einigen Momenten rannte der Hund davon.
Dann endlich, nach etwa einer Stunde, sah sie einen Reiter aus der Ferne näherkommen. Es war Muhammad.
Mit ihrem Besuch hatte er nicht gerechnet. Als er sie aus der Ferne erkannte, zog er die Zügel seines weißen Rosses an. Es trabte nur noch. Er brauchte Zeit zum Überlegen. Sogleich wurde er nervös und schwitzte heftig unterhalb seines Hemdes. Er hielt sein Pferd auf der Westseite seines Anwesens an, stieg herab und band die Zügel an die Holzplanke neben der Scheune an.
Farida konnte nicht länger warten und trat an ihn heran. Sie standen nebeneinander vor der Scheune. Auch sie wollte erst einmal gut überlegen, was sie zu ihm sagen sollte, denn Muhammad war nun ein Agha.
Gleich nach der Begrüßung fragte sie nach dem Wohlbefinden ihrer Tochter. Der Agha traute sich nicht, ihr in die Augen zu schauen. Er streichelte das Pferd und zog an den Zügeln, er war sehr angespannt.
„Es war ein tragischer Unfall. Es tut mir leid.“
Entsetzt stockte ihr der Atem. Aische, ihre geliebte Tochter, die
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