Liebe unter kaltem Himmel
einen Unfall hätte und den Rest ihrer Tage im Rollstuhl verbringen müsste – alles Mögliche, und oft bin ich nachts aufgewacht und habe es mir vorgestellt, aber dass sie mal als alte Jungfer enden würde, daran habe ich wirklich nie gedacht.«
In den Klang ihrer Stimme mischte sich nun immer deutlicher eine hysterische Betrübnis.
»Also, Sonia«, sagte Lady Patricia in ziemlich scharfem Ton, »das arme Mädchen ist nicht mal zwanzig. Warte doch wenigstens ihre erste Saison in London ab, bevor du sie eine alte Jungfer nennst – sie wird bald genug jemanden finden, da kannst du sicher sein.«
»Ich wollte, ich könnte, aber ich habe das bestimmte Gefühl, dass es nicht so sein wird, und noch schlimmer: Ich fürchte, dass sie den jungen Männern nicht gefällt«, sagte Lady Montdore, »sie hat nicht dieses Lockende im Blick. Es ist wirklich zu dumm. Außerdem lässt sie in ihrem Badezimmer jede Nacht das Licht brennen, ich sehe es unter der Tür …«
Lady Montdore war im Umgang mit modernen Erfindungen wie dem elektrischen Licht sehr geizig.
9
Der Sommer kam und ging, ohne dass sich in Pollys Leben irgendetwas veränderte, genau wie es ihre Mutter prophezeit hatte. Die Londoner Saison begann rechtzeitig mit einem Ball in Montdore House, der zweitausend Pfund kostete – jedenfalls erzählte Lady Montdore das überall herum –, es wurde wirklich ein strahlendes Fest. Polly trug ein weißes Satinkleid mit rosa Rosen am Busen und einer rosa gefütterten Schärpe (Tupfer von pink , stand im Tatler zu lesen), das Mrs Chaddesley Corbett in Paris für sie ausgesucht hatte und das im Koffer irgendeines südamerikanischen Diplomaten, der mit Lady Montdore befreundet war, herüberkam, sodass der Zoll entfiel, ein Vorgang, von dem Lord Montdore nichts wusste und der ihn sehr entsetzt hätte. Pollys Schönheit, noch hervorgehoben durch dieses Kleid und ein wenig Make-up, war in aller Munde, vor allem bei den Angehörigen der älteren Generation, die einhellig erklärten, etwas so Vollkommenes habe man seit Lady Helen Vincent, seit Lily Langtry, seit den Wyndham-Schwestern (je nach Geschmack) in London nicht mehr gesehen. Pollys Altersgenossen indessen waren weniger begeistert. Sie räumten zwar ein, dass Polly schön sei, fanden sie im Übrigen aber langweilig und zu groß. Die wirkliche Bewunderung der jungen Leute galt den kleinen, schlanken, glotzäugigen Nachbildungen von Mrs Chaddesley Corbett, denen man in dieser Saison überall begegnete. Viele, die Lady Montdore hassten, meinten, sie dränge Polly zu sehr in den Hintergrund, aber das war nicht fair, denn obwohl Lady Montdore in jedem Bild, auf dem sie zu sehen war, wie von selbst den Vordergrund einnahm, gab sie sich stets größte Mühe, Polly vor sich zu schieben, wie eine Geisel, und es war nicht ihre Schuld, wenn Polly immer wieder nach hinten zurückwich.
Anlässlich dieses Balles waren viele der königlichen Hoheiten aus ihren silbernen Rahmen in Lady Montdores Schlafzimmer gestiegen und lebendig geworden, aber die Ärmsten wirkten verstaubter und weniger prächtig, wenn man sie leibhaftig vor sich sah; sie hatten sich in den großen Empfangssälen von Montdore House verteilt, und überall hörte man die Wörter »Sir« oder »Madam«. Die Madams waren wirklich bemitleidenswerte Geschöpfe, fast hätte man sagen können, sie sahen hungrig aus, so alt, in so trostlosen, knittrigen Kleidern, während einige Sirs mit tiefblauem Kinn unter den Gästen waren, die einen schauderhaft fremdländischen Eindruck machten. An einen von ihnen erinnere ich mich besonders, weil es hieß, er werde von der französischen Polizei gesucht, während man ihn sonst eigentlich nirgendwo haben wolle, und ganz besonders nicht in seiner Heimat, wo sein Vetter, der König, täglich damit rechnete, dass ihm ein Windstoß aus Osten die Krone vom Kopf wehen werde. Dieser Fürst roch stark, aber nicht köstlich, nach Kamelien und besaß einen fond de teint von glänzender Sonnenbräune.
»Ich lade ihn nur meiner lieben alten Prinzessin Irene zuliebe ein«, erklärte Lady Montdore, wenn Leute die Stirn darüber runzelten, seiner in einem so vornehmen Haus ansichtig zu werden. »Ich werde nie vergessen, wie lieb er zu uns war, als Montdore und ich den Balkan bereisten (so etwas vergisst man nicht). Ich weiß, manche sagen, er sei ein Blumi, was immer das ist, aber wenn man auf alles hören würde, was die Leute sagen, könnte man überhaupt niemanden mehr einladen, außerdem werden
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