Liebe unter kaltem Himmel
dann erzählt sie, was ich alles für diese armen Inderinnen tun konnte und wie sie mich verehrt haben. Ich persönlich finde Memoiren viel interessanter als jeden Roman, weil sie nämlich wahr sind. Vielleicht bin ich keine Intellektuelle, aber ich lese gern die Wahrheit. Und in einem Buch wie dem der Großherzogin erlebt man die Geschichte im Augenblick ihrer Entstehung, und wenn man die Geschichte so liebt wie ich (aber erzähl das nicht deinem Gatten, mein Liebes, er würde es nicht glauben), wenn man die Geschichte so liebt, dann muss man sich für die wahre Geschichte aus erster Hand interessieren, und allein Menschen wie die Großherzogin sind imstande, sie uns zu erzählen. Ach, Fanny, da fällt mir gerade ein – würdest du bitte in Downing Street anläuten und mir den Premier oder seinen Sekretär an den Apparat holen, ich spreche dann selbst. Ich arrangiere da ein kleines Dinner für die Großherzogin, damit ihr Buch einen guten Start bekommt, dich lade ich natürlich nicht ein, dir wäre es nicht intellektuell genug, bloß ein paar Politiker und Schriftsteller, habe ich mir überlegt. Hier ist die Nummer, Fanny.«
Ich versuchte damals, an allen Ecken und Enden zu sparen, weil ich mich bei der Renovierung meines Hauses finanziell etwas übernommen hatte, und befolgte die eiserne Regel, nie zu telefonieren, auch nicht mit Tante Emily oder mit Alconleigh, wenn sich die Sache mit einem Brief erledigen ließ. Deshalb kam ich Lady Montdores Bitte nur sehr widerstrebend nach. Ich musste lange warten, bis ich den Premierminister selbst am Apparat hatte, und dann redete sie eine Ewigkeit mit ihm, während das Piep-piep-piep mindestens fünf Mal ertönte, ich konnte es hören, und jedes einzelne Piep war eine Qual für mich. Zunächst legte sie das Datum für ihre Dinnerparty fest, das nahm viel Zeit und viele Pausen in Anspruch, in denen sich der Premier bei seinem Sekretär erkundigte, und es kostete zwei Piep-piep-pieps. Anschließend fragte sie, ob es etwas Neues aus Madrid gebe.
»Ja«, sagte sie, »schlecht beraten, der arme Mann [Piep-piep-piep], wie ich fürchte. Ich traf gestern Abend Freddy Barbarossa (sie tragen es übrigens mit Fassung, sehr stoisch; ja, bei Claridges), und er hat mir erzählt …« Es folgte ein Schwall von Nachrichten und Ansichten aus dem Daily Express . »Aber Montdore und ich, wir machen uns große Sorgen um unsere spezielle Infantin – ja, eine gute Freundin von uns –, oh, Premierminister, wenn Sie einmal nachhören könnten, ich wäre ihnen so verbunden. Wirklich, lässt sich das machen? Wissen Sie, die Großherzogin hat in ihrem Buch ein ganzes Kapitel über Madrid, dadurch wird es natürlich sehr aktuell, großartig für sie. Ja, eine nahe Verwandte. Sie beschreibt den Blick [Piep-piep-piep] vom Königspalast – ja, sehr kahl, ich bin mal dort gewesen, aber herrliche Sonnenuntergänge, ich weiß, ja, bedauernswerte Frau. Zuerst waren sie ihr so verhasst, sie hatte ein spezielles Opernglas mit blinden Flecken für die grausamen Augenblicke. Wissen Sie zufällig, wo sie sich niederlassen wollen? Ja, das hat mir Barbara Barbarossa auch erzählt, aber ich wundere mich doch, dass sie nicht zu uns kommen. Wollen Sie nicht einen Versuch machen, sie zu überreden, Premierminister? Ja, ich verstehe. Gut, darüber sprechen wir noch, also, lieber Premierminister, ich möchte Sie nicht länger aufhalten [Piep-piep-piep], aber wir sehen Sie am Zehnten. Ich auch. Ich schicke Ihrem Sekretär selbstverständlich noch eine Notiz zur Erinnerung. Auf Wiederhören.«
Sie wandte sich zu mir um und meinte strahlend: »Ich habe eine wunderbare Wirkung auf diesen Mann, weißt du, es ist rührend, wie er für mich schwärmt. Ich glaube, er würde alles für mich tun, wirklich alles.«
Von Polly sprach sie nie. Zunächst glaubte ich, Lady Montdore komme deshalb so oft zu mir, weil ich in ihrer Vorstellung irgendwie mit Polly verbunden sei, und hatte erwartet, sie werde mir früher oder später ihr Herz ausschütten oder mich als Vermittlerin bei einer Versöhnung einzuspannen versuchen. Aber bald erkannte ich, dass Polly und Boy für sie tatsächlich tot waren; sie hatte für die beiden keine Verwendung mehr, denn Boy würde nie wieder ihr Liebhaber sein, und Polly konnte ihr, so schien es, in den Augen der Welt nicht mehr zur Ehre gereichen; also verbannte sie beide aus ihren Gedanken. Der Grund für ihre Besuche bei mir war zum einen ihre Einsamkeit und zum anderen die Tatsache, dass ich als
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