Liebe unter kaltem Himmel
deinen Auftritt bei allen feierlichen Anlässen in England so gut vorstellen – Krönungen, Oberhaus, Bälle, Ascot, Henley. Was ist eigentlich Henley? Einerlei – und vor allem kann ich mir vorstellen, wie du in Indien auftrittst, wie du, einer Göttin gleich, auf deinem Elefanten reitest. Wie müssen dich die Leute dort verehrt haben.«
»Oh, das haben sie allerdings«, sagte Lady Montdore entzückt, »sie haben uns angebetet, es war rührend. Und wir haben es natürlich auch verdient, wir haben viel für sie getan, man kann wohl sagen, dass wir Indien überhaupt erst auf die Landkarte gesetzt haben. Von den Freunden in England kannte kaum einer Indien, ehe wir dort hingingen, weißt du.«
»Davon bin ich überzeugt. Was für ein wunderbares, faszinierendes Leben ihr führt, Tante Sonia. Habt ihr ein Tagebuch geführt, als ihr im Orient wart? Oh, bitte sag Ja, ich würde es für mein Leben gern lesen.«
Es war ein Schuss ins Blaue – aber ein Volltreffer. Sie hatten tatsächlich einen riesigen Folioband gefüllt, auf dessen Buchschildchen aus Maroquinleder unter der Wölbung einer Grafenkrone zu lesen stand: »Blätter aus unserem Indischen Tagebuch. M. und S. M.«
»Eigentlich ist es eine Art Sammelalbum«, meinte Lord Montdore, »Berichte von unseren Reisen im Land, Fotografien, Skizzen von Sonia und unserem Schwa… ich meine, von einem damaligen Schwager, Dankesbriefe von Radschas …«
»Und indische Poesie in Montdores Übersetzung – ›Gebet einer Witwe vor der Verbrennung‹, ›Tod eines greisen Elefantentreibers‹ und so weiter, rührend, es kommen einem die Tränen.«
»Das muss ich alles lesen, jedes Wort, ich kann es kaum erwarten.«
Lady Montdore strahlte. So oft hatte sie ihre Gäste schon zu den »Blättern aus unserem Indischen Tagebuch« geführt wie Pferde zur Tränke, und so oft hatte sie beobachten müssen, dass sie nach einem halbherzigen Nippen wieder das Weite suchten. Wahrscheinlich war noch nie jemand so versessen darauf gewesen, die »Blätter« zu lesen, wie Cedric.
»Und jetzt musst du uns etwas über dein Leben erzählen, mein lieber Junge«, sagte Lady Montdore. »Wann hast du Kanada denn verlassen? Du stammst doch aus Neuschottland, nicht wahr?«
»Ich habe dort bis zu meinem achtzehnten Jahr gelebt.«
»Montdore und ich sind nie in Kanada gewesen – in den Staaten natürlich, wir waren mal einen Monat in New York und in Washington und haben die Niagarafälle gesehen, aber dann mussten wir zurück, ich wäre gern noch geblieben, sie waren so rührend, wollten uns unbedingt dabehalten, aber Montdore und ich können nicht immer so, wie wir gern möchten, wir haben Pflichten. Natürlich, es ist lange her, fünfundzwanzig Jahre vielleicht, aber ich nehme an, Neuschottland verändert sich nicht so schnell, oder?«
»Zu meiner Freude muss ich gestehen, dass die gnädige Natur zwischen mir und Neuschottland einen dichten Nebel des Vergessens zusammengeballt hat, sodass ich mich kaum noch an etwas erinnere.«
»Ein merkwürdiger Junge bist du!«, sagte sie nachsichtig, aber der Nebel war ihr nur recht, denn das Letzte, was sie hören wollte, waren ausgiebige Reminiszenzen an Cedrics kanadisches Familienleben; das alles wurde am besten so rasch wie möglich vergessen, und vor allem die Tatsache, dass Cedric eine Mutter hatte. »Mit achtzehn bist du also nach Europa gekommen?«
»Paris. Ja, mein Vormund, ein Bankier, schickte mich nach Paris, ich sollte dort irgendeinen widerwärtigen Beruf erlernen, ich habe völlig vergessen, was es war, und musste mich zum Glück auch nie damit abgeben. In Paris kommt man sehr gut ohne Beruf zurecht, die Freunde, die man dort findet, sind so ungemein freundlich.«
»Wirklich? Wie komisch! Ich dachte immer, die Franzosen seien geizig.«
»Die, die Man hat, bestimmt nicht. Zugegeben, meine Bedürfnisse sind schlicht, aber so, wie sie sind, ist ihnen allen immer wieder Genüge geschehen.«
»Was für Bedürfnisse hast du denn?«
»Ich muss viel Schönheit um mich haben, schöne Dinge, wohin man auch sieht, und schöne Menschen, die erkennen, worauf Man es abgesehen hat. Ach, da wir gerade von schönen Menschen sprechen, Tante Sonia, nach dem Dinner die Juwelen, nicht wahr? Bitte sag nicht Nein!«
»Also gut«, meinte sie, »aber bitte, Cedric, willst du jetzt nicht die Brille abnehmen?«
»Vielleicht könnte ich. Ja, ich glaube, es geht, die letzte Spur von Schüchternheit ist verschwunden.«
Er nahm sie ab, und die Augen, die nun,
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