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Liebe wird oft überbewertet

Liebe wird oft überbewertet

Titel: Liebe wird oft überbewertet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Rösinger
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jedoch eine andere Analyse der Beziehung zwischen Kapitalismus und Liebe. In »Die Kunst des Liebens« behauptet Fromm 1956 , dass die moderne Liebe mit den gleichen Begriffen wie die kapitalistischen Austauschbeziehungen erfasst werde. Das moderne Liebespaar sei zu einem »Arbeitsteam« geworden und habe damit die Werte und Denkweisen der modernen ökonomischen Verhältnisse übernommen.
    Auch der Arbeitskreis »Politische Psychologie«, der 2005 zu dem Thema »Liebe und Kapitalismus – eine verhängnisvolle Affäre« in Frankfurt getagt hatte, kam zu dem Ergebnis: Die große Liebe gibt es nicht.
    »Liebesgefühle entstehen nicht aus sich heraus, sie sind das Resultat einer gekonnten Inszenierung«, sagte Rolf Haubl, Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt, in seinem Vortrag »Romantische Liebe im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit«: »Liebe, die wie eine Naturgewalt über den Menschen hereinbricht, ist ein Liebesideal der Romantik. In der Realität reichen nur wenige Symbole aus, um Gefühl zu erzeugen – ein romantischer Abend beim Candle-Light-Dinner, rote Rosen, Musik, Vollmond.«
    Der Romantik-Tourismus macht sich das zunutze, obwohl es da auch zu Rückschlägen kommen kann. So wurde auf dem Psychologenkongress von einem Paar berichtet, bei dem trotz Romantikurlaub in der Karibik keine entsprechenden Gefühle aufkamen. Es klagte gegen den Reiseveranstalter – das Gericht sprach ihm eine Preisminderung von 30 % zu.

Kreuzberg 36 , 1 . Mai
    Nun ist er also da, der liebe schöne Monat Mai, auf den wir den ganzen Winter lang gewartet haben, und er kam ganz unspektakulär und friedlich dieses Jahr. Der Mai ist ja der Monat der Überforderung, schon am 1 . Mai hätte man sich in Berlin zwischen 41 angemeldeten Demonstrationen entscheiden müssen.
    Wer seit 26  Jahren den ersten Mai bis auf wenige Ausnahmen in Kreuzberg verbringt, muss mit Wiederholungen rechnen, denn es sind doch immer die gleichen schönen Bilder und Gefühle: Das »MyFest« auf dem Mariannenplatz, die Köfte-Rauchschwaden über der Adalbertstraße, die Oriental-Dance-Szenen am Feuerwehrbrunnen, das Auftauchen sämtlicher fast schon vergessener Musik- und Jugendkulturen in der Oranienstraße. Dann das schleichende Eintreten einer großen Müdigkeit, Überforderung und die Erkenntnis, dass das Rumlatschen auf Stadtfesten doch recht sinnlos ist.
    Trotz dieser festen Größen gab es dieses Jahr doch ein paar Neuerungen: Die Demo der Maoisten fiel aus, dafür waren die Hells Angels als Anti-Konflikt-Team unterwegs. Neben den üblichen »MyFest«-Helfern gab es »MyFest«-Flaschenbeauftragte, die entsprechende T-Shirts trugen, sich wohl ums Glas kümmern sollten, aber eher auf unnachahmliche Jungsart wichtigtuerisch herumlungerten. Gleichzeitig war zu beobachten, dass sich die »Späti«-Kultur immer weiter verfeinert und professionalisiert. Die Skalitzer Straße entlang hieß es: Kein Falafelladen ohne DJ -Line-Up!
    Während in der Oranienstraße modisch das Polit-Outfit überwog, traf man am Spreewaldplatz wandelnde Freiheitsstatuen, Balletttänzerinnen, Barbies mit goldenen Hula-Hoop-Reifen als Accessoires, und im Görlitzer Park wurde gleich an drei Stellen – vor dem Edelweiß, am Pisstunnel und am Hügel – open air geravt.
    Viele neue Fragen kamen an diesem Tag der Arbeit auf: Ist der 1 . Mai jetzt eine informelle Loveparade? Wie schafft man es, einen ganzen Hügel unter Federn zu setzen? Und gehören der blasse Typ im Häschenkostüm, der fortwährend theatralisch »Ich bin die Revolution!« ausruft, und sein Kollege, ein effekthascherisch Meditierender in schwarzem Satin, zur Generation der neuen Raver, oder sind es nur dämliche Performer?
    Mai also. Und jetzt geht das Überangebot grad so weiter. Auf einen Schlag soll man also die Winterdepression überwinden und outdoor aktiv werden. Was alles im Mai neu aufmacht: Das Kreuzberger Badeschiff, sämtliche Schwimmbäder, das Wannseebad, die neue Bar  25 , aber auch dreißig andere Strandbars, achtzehn Freilichtkinos und so fort.
    Lange hatte ich auf die kahlen Bäume im trostlosen Hinterhof gestarrt, und jetzt dieses Grün plötzlich, diese weißen, blühenden Kerzen der Kastanienbäume! Es ist schön, aber es kam dann so plötzlich. Kann ich es auch wirklich genießen? Bin ich lange genug draußen, hätte ich nicht schon längst das Fahrrad flottmachen müssen und mich zu den Tausenden von jungen Müttern, alten Punks, Kleindealern, Studenten und

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