Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Lieber einmal mehr als mehrmals weniger

Titel: Lieber einmal mehr als mehrmals weniger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Moor
Vom Netzwerk:
hatte sie sich gewünscht, bei der Ankunft der Kühe unbedingt dabei sein zu wollen, jedoch, wie’s der Teufel will, gestern Abend war Alice zu einer Sommerferien-Fete von «so ’ner Schulfreundin, weißt du?» eingeladen gewesen, und ich weiß aus eigener Erinnerung, wie wichtig es für Teenager ist, solche Anlässe möglichst erwachsen durchzuziehen, sprich: möglichst lange. Um tatsächlich kurz nach sieben bei uns in Amerika sein zu können, hätte sich Alice um fünf Uhr früh aus ihren Stadt-Federn quälen müssen, und das konnte, bei allem Respekt, nicht mal sie schaffen. Nicht nach einer Erwachsenen-Nacht. Aber sie ist gekommen! Hammer-Kind! Die Bande ist vollzählig, Alice ist da. Ich fühle mich schlagartig besser.
    «Alice-Kind!», rufe ich.
    «Wo sind die Kühe und die Büffel?», fragt sie atemlos und drückt mich kurz zur Begrüßung.
    «Noch im Lastwagen», informiere ich sie. «Bist noch rechtzeitig.»
    «Gott sei Dank.» Alice ist erleichtert. «Puh, ich dachte schon … Und, wie sind sie drauf, kann ich gucken? Wo sind sie? Wo ist Sonja?»
    «Im Moment kannst du nicht gucken, weil die Klappe zu ist. Sonja ist bei den Büffeln drinnen und versucht sie zu bluten, was die wiederum überhaupt nicht witzig finden, und dementsprechend sind sie grade nicht so gut drauf.» Ich verstumme, und Alice lauscht mit wachsendem Entsetzen dem unheilvollen Lärm hinter der eisernen Wand.
    «Das klingt nicht gut! Wir müssen helfen, Sonja wird doch zertrampelt da drinne …» Und schon stapft sie los.
    «Halt!» Ich erwische Alice gerade noch am Ellenbogen. «Bitte, mach nicht noch mehr Stress.»
    Sie sieht mich an. «Wie denn? Mehr Stress, als da schon ist, geht doch gar nicht.»
    «Doch, Alice. Sonja packt das schon, da müssen wir jetzt alle durch. Wir können nichts tun als warten, und wir sollen auch nichts tun als warten.»
    «Aber warum? Warum bist du nicht bei Sonja?»
    Boing. Sie hat mich wieder mal genau am Punkt erwischt. Kleinlaut muss ich zugeben: «Sie hat mich nicht gelassen.»
    Alice drückt ihren Strohhut nach hinten und reißt ihre blauen Augen auf: «Was? Sonja
wollte
, dass du draußen bleibst? Sie ist
freiwillig
alleine da reingegangen?»
    «Na ja, nicht ganz alleine.» Ich deute auf den Silber-Mercedes. «Der Tierarzt ist auch drin. Und Waldemar.»
    «Waldemar?»
    «Ja, der Fahrer von diesem Monsterding da.»
    Alice pflanzt sich vor mir auf, stützt ihre dünnen Ärmchen in die Seiten und kräht: «Hab ich das richtig verstanden? Du hast zugelassen, dass Sonja da alleine reingeht, nur mit dem Tierarzt und dem Monsterfahrer und ohne dich? Bloß weil sie das so wollte?»
    «Äh … ja!»
    Alice lässt die Arme fallen und mustert mich. Sie denkt nach. Sie guckt auf ihre Schuhe, dann wendet sie sich um, betrachtet den Laster, lauscht dem Chaos in seinem Inneren, denkt wieder nach und kommt zu einem Ergebnis. «Wenn Sonja das so wollte, wie es ist … dann ist es gut so, wie es ist.» Spricht’s und lässt sich an Ort und Stelle ins Gras fallen, faltet ihre Beinchen zum Schneidersitz, blickt zum Laster und … wartet.
    «Was machst du denn da?», frage ich.
    Sie streckt den Rücken durch und antwortet, ohne den Blick vom Laster zu lösen: «Das Einzige, was wir, wie du ja schon sagtest, tun können: Warten.»
    Alice schweigt und gibt sich diesem Einzigen, was wir tun können, ganz hin. Das Poltern im Wagen dauert an. Da! Menschen schreien! Kurze Stille. Dann die Stimme des Tierarztes: «Na also, warum nicht gleich.»
    Waldemar: «Jetzt, zier dich halt nicht so, Schatzili.»
    Sonja: «Rüber da! Uooooaaa! Uoaaaaa! Uooooaaaa! Verdammt … autsch!»
    Ich setze mich neben Alice. Ächzend verkreuze ich ebenfalls meine Beine, vielleicht wirkt es ja beruhigend. Bei Alice scheint es jedenfalls enorm zu wirken. Bei mir nicht. «Verstehst du, Alice, wenn Sonja da drinnen was passiert, wenn sie verletzt wird, querschnittgelähmt, getötet, dann können wir einpacken, dann ist der Hof im Eimer. Ein Hof mit einer toten Bäuerin, absurd. Oder mit ’ner Rollstuhl-Bäuerin … Wenn meine Sonja da nicht pumperl-gesund wieder rauskommt, dann kann der Bayer seine Kühe gleich wieder mitnehmen.»
    «Unsere Kühe!»
    «Hä?»
    «Unsere Kühe, es sind unsere Kühe, oder seh ich das falsch?»
    Ich freue mich, dass Alice «unsere» gesagt hat. «Na, dann eben
unsere
Kühe, dann nimmt er eben unsere Kühe wieder mit, ist mir doch egal. Wichtig ist doch nur, dass Sonja sich da drinnen … ach …» Ich verstumme.

Weitere Kostenlose Bücher