Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
schaust, dass sie nicht die Straße nehmen, sondern sofort zur Weide einbiegen, ich stell mich da her und blockiere nach rechts, Waldemar, du machst bitte die Absperrung auf, aber nur so weit, dass sie einzeln rauskommen müssen.»
«Scho recht, Sonja, bin ja kein Anfänger, gell.»
«Ist die Weide offen, Alice? Sehr gut, dann kannst du Dieter helfen, die Straße zu sichern. Waldemar, alles bereit?»
Ich staune: Sonja agiert, als hätte sie ihr Lebtag nie etwas anderes gemacht als Kühe auszuladen. Es gibt ja Menschen, die sich in Sekunden in eine ihnen völlig unbekannte Situation hineinfinden, sie analysieren und instinktiv wissen, was zu tun ist, Menschen, die mit einer Art Lebensintelligenz ausgestattet sind. Ich erkenne einmal mehr: Sonja gehört definitiv zu diesen.
Ich hingegen fühle mich dieser neuen Erfahrung, die ich hier und jetzt zu machen habe, ob ich will oder nicht, einigermaßen hilflos ausgeliefert. Hier stehe ich (und kann nicht anders) neben der kleinen Alice vor dem Riesenlaster, aus dem in wenigen Sekunden Riesen-Tierleiber, tonnenschwere Kraftpakete herauskatapultieren werden, von null auf hundert in null Sekunden! Und nichts wird sie aufhalten können, schon gar nicht ein älterer Herr und ein dünner Teenager, die der animalischen Urgewalt nichts entgegenzusetzen haben als ihre lächerlich mickerige körperliche Präsenz und ihre Ärmchen, die sie, wie zur Steigerung ihrer Lächerlichkeit, seitlich weit ausstrecken. Vielleicht in der zaghaften Hoffnung, den Tieren, wenn nötig, fliegend ausweichen zu können.
«Alles in Ordnung mit deiner Unfallversicherung? Und der Haftpflicht?», meldet sich der kleine Schweizer. Verdammt, er hat recht: Das hier ist viel zu gefährlich für Alice-Kind. Ich hole Luft, um sie in die sichere Zone hinter den Weidezaun zu schicken, da höre ich Waldemar rufen: «Achtung, Schatzis kommen!» Der Wahnsinnige! Lachend klinkt er die Absperrhaken auf einer Seite des Stahlrohrgatters aus und schwenkt es leicht nach hinten, sodass sich eine Öffnung von der Breite einer Kuh auftut. In dieser Position fixiert er das Gatter mit einem Querbolzen am Boden. Zwischen uns und den Büffeln ist jetzt nur noch … ist gar nichts mehr. Und jetzt, jetzt gleich – mir stockt der Atem, jetzt passiert … nichts.
Nach etlichen zähfließenden Sekunden dreht eine der Büffelinnen in aller Ruhe den Schädel Richtung Ausgang, schaut, überlegt und lässt sich schließlich gnädig dazu herab, die Sache doch mal genauer zu inspizieren. Sie vollführt drei, vier gravitätische Schritte bis zum Durchgang. Sie bleibt stehen. Prüft die Rampe. Schätzt die leichte Schräge zur Straße ab. Schaut zu Alice und mir.
Offensichtlich nimmt sie Maß für ihr Überrennmanöver!
Meine Arme spannen sich reflexartig in die Waagrechte. Die Büffelin senkt den Kopf, ihre beeindruckenden Hörner sind auf gleicher Höhe wie Waldemars Knie. Der lässt sich natürlich nicht aus der Ruhe bringen, kein Wunder, er steht ja relativ sicher neben der Absperrung und nicht, wie leider wir, genau in der Angriffsachse.
Die Büffelin setzt eine Klaue nach vorn, wartet, berechnet, entwickelt ihre Strategie. Tritt mit der zweiten Klaue vor die erste und schiebt ihren dunkel behaarten Körper nach. Sie kommt langsam auf Touren, gerät in Schwung und … trottet gemütlich die Schräge hinab, gefolgt von den anderen. Sie erreichen die Straße, und als ob wir es für eine Zirkusnummer geübt hätten, schwenken sie brav vor uns ab, Richtung Weide. Der ganze Büffelkonvoi, dessen Schlusslicht die Galloway-Kuh mit der Lizenz zum Fliegen bildet, wie eine wunderschöne Kastanienkette. Kaum registrieren die Tiere das Grün der Wiese, fallen sie in einen angedeuteten Trab, den sie aber nach wenigen Sekunden wieder abbrechen. Sie drehen sich zum Transporter um, und jetzt höre ich ihn zum ersten Mal: den knatternden, zugleich kehlig röhrenden Ruf der Büffel. Es klingt wild und exotisch. Ein Geräusch, das aus der Urgeschichte des Planeten in unsere Gegenwart dröhnt, ein durchdringender Ruf aus jener Vergangenheit, als diese Wiese Amerikas noch vom Sand des Nordmeers bedeckt war.
Auch die Galloway-Kuh hat sich umgedreht und stimmt ins Konzert ein. Ihr Ruf klingt in meinen Ohren wie pure Heimat, Kindheitserinnerungen tauchen auf an das vertraute Muhen der Schweizer Milchkühe. Die noch im Transporter verbliebenen Galloways erwidern das Lied ihrer befreiten Schwester sofort. Dreistimmig und voller Inbrunst.
«Ja, ja,
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