Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
Schatzeln, jetzt wartet’s halt amal schnell!», ruft Waldemar, verschwindet behände im Inneren des Transporters und öffnet auch die hintere Absperrung. Und dieses Mal geht alles sehr zügig. Die Kühe durchqueren, ohne ihren Gesang zu unterbrechen, im Galopp den Laderaum, brettern die Rampe runter, schlagen mit verblüffender Wendigkeit vor uns einen Haken und laufen der kleinen Herde auf der Weide entgegen. Und jetzt, als ob jemand den Stecker aus der Lautsprecherbox gezogen hätte, verstummt das Kuhgerufe und Büffelgeknattere. Die acht Tiere stehen als lockere Gruppe zusammen. Und wieder macht sich schlagartig dieser eigenartig zufriedene Gleichmut breit. Die Kühe tauchen die Mäuler ins Gras und fangen ruhig und methodisch an zu fressen. Die Wiese wird mit dem einen oder andern Fladen markiert, platsch hier, platsch dort, und dann ist nur noch das rhythmische Rupfen von Grasbüscheln zu hören. Können Hornviecher zählen?, frage ich mich, woher wissen sie, dass sie zu acht sind, was macht sie so sicher, dass kein Artgenosse im Wagen zurückgeblieben ist? Ich staune.
«Machst du wieder zu, Alice?», ruft Sonja, und die Kleine hängt die Plaste-Griffe des Elektrodrahts in ihre Halterungen zurück.
Geschafft!
Wir blicken uns an, wir schauen zu den Kühen, blicken wieder uns an. Ein Grinsen breitet sich über alle vier Gesichter.
«Yeahhh!», ruft Sonja, und wir klatschen uns ab, dass es eine Freude ist.
«Lass uns auf die Weide gehen, zu den Kühen, uns mit ihnen bekannt machen», schlage ich vor, da trötet ein heiseres Hupen aus der Allee. Ein blitzblauer alter VW -Bus, Ausführung Pick-up, eiert in halsbrecherischem Tempo auf uns zu: Gaby und Karl.
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Gaby und Karl
Karls Blick kann sich niemand entziehen. Wer von seinen Augen fixiert wird, denkt unweigerlich an Feuer. Nicht an die Glut des temperamentvollen Südländers, solche Augen haben viele auf dieser Welt. Nein, das Feuer in seinen Augen leuchtet in kräftigem Blassblau. Es ist das Feuer des Nordlichts in der Weite des Eismeeres. Solche Augen hat nur Karl. Solche Augen gibt es eigentlich gar nicht. Der andere Karl, der May Karl, der hat von solchen Augen sehnsüchtig geträumt und sie seinen Helden angedichtet. Die Augen des Westmannes, der adlerscharfen Blickes die Weiten der Prärie durchschweift. Aber Karl May war ja ein Phantast gewesen, ein Fabulierer, in Wirklichkeit gäbe es solche Augen ebenso wenig wie den Schatz vom Silbersee – wenn … ja, wenn es Karl nicht gäbe. Karl hat sie, diese Eisfeuer-Augen.
Karls Augen machten vieles wett. Etwa seine für einen Mann doch eher kurz geratene Länge und seine für einen Kurzen zu XXL geratene Breite. Auch wenn es nicht wenige Frauen gab, die ihn als «quadratisch, praktisch, gut» bezeichneten, so gab es auch nicht wenige, die ihm nichtsdestotrotz gern verfielen. Und nicht selten in eher unschicklich kurzer Zeit. Was natürlich der Wirkung seiner Augen geschuldet war. Aber nicht nur seiner Augen. Karl konnte eine beträchtliche Menge von Charme entwickeln. Zudem entpuppte er sich öfter als ein willig sprudelnder Quell von humorvoll erzählten Anekdoten aus seinem alles andere als gleichförmigen Leben. Er hatte Geschichten ohne Ende auf Lager: von seiner Zeit bei den Hells Angels, in der Landkommune, von den vielen Geschäftsmodellen, die er mit allen möglichen Kumpels ausgeheckt und durchgezogen hatte, mal war schnelles Geld der Mühe Lohn, mal war schnelles Von-der-Bildfläche-Verschwinden angeraten.
Karl ist viel herumgekommen. Die ganze Welt hat er gesehen, mit seinen feuerblauen Augen. Als Schiffsmaschinist war er zur See gefahren, wie sich das für einen «Jung vom Watt» gehört, Südamerika, Karibik, alles gesehen. Und in Sachen computergesteuerter Textilmaschinen war er für die Japaner in ganz Asien unterwegs gewesen, damals in den frühen Achtzigern, als die Dinger noch eine Innovation waren. China, Korea, Vietnam, alles gesehen.
Wenn er von der großen Welt genug hatte und ihm nach der ruhigen kleineren war, kehrte er stets in seine Heimat und in seinen angestammten Beruf zurück. Und der war, was das damit verbundene Fraueneroberungspotenzial betrifft, besser als Ski-, Tennis-, Golf- und Body-Works-Lehrer zusammen. Er war: Hufschmied. Wer mit Pferden gut kann und ihnen wieder auf die Sprünge hilft, der kann bald auch gut mit den Pferdebesitzerinnen …
Genau genommen trifft die Bezeichnung «Hufschmied» bei Karls Methode der Pferdefußpflege den
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