Lieber Frühling komm doch bald
Abendbrot und Frühstück im Kreise einer so großen Familie einzunehmen, angst und bange. Und am Ende mußte sie in der Nacht ein Zimmer mit der alten Dame teilen, die ihren Mini kaputtgefahren hatte! Schrecklicher Gedanke. Sie sehnte sich nach ihrem gemütlichen Häuschen, nach einem friedlichen Abend bei geschlossenen Türen und vorgezogenen Gardinen, doch zwischen ihr und dem gemütlichen Häuschen lag jetzt eine Schneewüste. Es blieb ihr also gar keine Wahl.
Als May zum drittenmal an diesem Tag Miss Thompson vor ihrer Haustür stehen sah, reagierte sie verständlicherweise nicht gerade begeistert. «Ach, da seid ihr ja wieder», sagte sie, zu Jocelyn gewandt. «Du bist also nicht durchgekommen - naja, kein Wunder bei dem Schneetreiben! Gaylord, du gehst sofort ins Bett. Paps wird dir dein Abendbrot raufbringen.» Und nach einer kleinen Pause: «Guten Abend, Miss Thompson.»
«May, ich habe Miss Thompson gesagt, du hättest gewiß noch ein Bett für sie.» Er lachte verlegen und ein wenig schuldbewußt.
Ohne jemanden anzusehen, sagte May: «Aber natürlich, Miss Thompson, wir freuen uns.»
«Ich mache Ihnen so schrecklich viel Umstände», sagte Miss Thompson.
«Nein, nein, keine Spur.»
Gaylord wußte aus bitterer Erfahrung, daß Mummi jetzt bestimmt nicht mehr mit sich handeln ließ. Aber ehe er ins Bett ging, mußte er ihr wenigstens noch von dem großen Abenteuer berichten. «Du, Mummi, wir hatten eine Panne in der eisigen Steppe, und da war ein Schneemensch! Ich hab ihn ganz deutlich gesehen.»
«Tatsächlich, Gaylord?» sagte May abwesend. Dann ging ihr ein Licht auf. «Du hattest eine Panne, Jocelyn?»
Gaylord wurde klar, daß er, ohne es zu wollen, Paps soeben flußabwärts verkauft hatte. Zu dumm. Vereint hatten er und Paps immer noch eine Chance - getrennt konnte Mummi sie zu Hackfleisch verarbeiten. Eilig sagte er: «Es war gar nicht Paps’ Schuld, daß wir kein Benzin mehr hatten. Da war bestimmt ein Loch im Tank, Mummi.»
«Kein Benzin im Tank, Jocelyn?»
«Es war alles meine Schuld», sagte Miss Thompson kläglich.
«Unsinn, Miss Thompson», sagte May. «Davon kann doch gar keine Rede sein!»
«Ich bin ganz allein an allem schuld», gestand Jocelyn.
Doch zu seiner großen Erleichterung fing May jetzt plötzlich fröhlich an zu lachen und sagte: «Es ist doch auch völlig egal, wer schuld ist, Kinder. Hauptsache, ihr seid alle wieder heil zu Hause. Nur die arme Miss Thompson steht hier unter lauter fremden Leuten in einem fremden Haus.» Und sie schenkte der armen Miss Thompson ein liebenswürdiges, huldvolles Lächeln. «Lassen Sie nur, Miss Thompson, wenn Sie uns erst etwas besser kennen, werden Sie feststellen, daß wir ganz umgänglich sind. Auch mein Schwiegervater beißt nicht, müssen Sie wissen.»
«Ach wie schön!» sagte Wendy Thompson mit seligem Lachen. Sie merkte, daß es albern klang, aber ihr fiel in diesem Augenblick nichts anderes ein, was sie der großherzigen Mrs. Pentecost hätte sagen können.
«Und Wölfe waren auch da, Mummi!» Es war Gaylords allerletzter Versuch, seine Mutter abzulenken. Aber er wußte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Normalerweise hielt er sich, sobald das Thema Zubettgehen zur Sprache kam, still und leise im Hintergrund. Heute hatte er sich in seiner Aufregung hinreißen lassen, ihr von seinen Abenteuern zu erzählen. Mummi sagte nur: «Los, ins Bett mit dir, Gaylord.»
Zu ihrem Erstaunen verschwand er sofort. Hoffentlich steckte nichts dahinter... Doch dann sah sie, was Gaylord einen Moment früher gesehen hatte, und wußte den Grund seiner plötzlichen Folgsamkeit: Tante Bea kam aus dem Wohnzimmer in die Diele.
Ihr folgten Tante Dorothea, Edouard und der alte John Pentecost. Edouard hielt ein Glas mit Gin Tonic in der Hand, John sein Glas Whisky. John hatte dem Franzosen den Arm um die Schultern gelegt und redete eindringlich auf ihn ein. Er sprach über den Gemeinsamen Markt, der seiner Überzeugung nach das Ende des englischen Musicals und der Krickettspiele bedeutete.
May sagte: «Monsieur, das ist mein Mann - ich glaube, Sie kennen ihn noch nicht. Jocelyn, das ist Monsieur Edouard Saint-Michel Bouverie.»
Jocelyn war im Begriff, ihn mit dem üblichen «Wie geht es Ihnen?» zu begrüßen. Aber Edouard kam ihm zuvor: «Monsieur»,! sagte er. «Sie sind zu beneiden.»
«So, finden Sie?» fragte Jocelyn. Ja, sicher, er hatte Glück, seine Arbeit machte ihm meistens Spaß, er hatte zwei reizende Kinder, keine ernsten
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