Lieber Frühling komm doch bald
strengem Ton: «Oder schnarchen Sie etwa?»
Wendy kam sich vor wie bei einem Verhör.
«Ich - nein, ich glaube nicht.»
«Dorothea schnarcht nämlich. Eine gräßliche Angewohnheit. Außerdem - eine Dame schnarcht nicht!»
«Wenn ich schnarche, müssen Sie mich bitte wecken.»
«Oh, darauf können Sie Gift nehmen.»
Tante Bea saß immer noch da und hielt ihre Knie umfaßt. Aber jetzt schwieg sie. Wendy Thompson wußte nicht recht, ob die Audienz damit beendet war oder nicht. Sie war todmüde und legte sich wieder hin. Gedanken und Bilder tanzten ihr durch den Kopf. Die Augen fielen ihr zu, ihr Atem ging tiefer.
«Sie schnarchen ja schon fast!» mahnte die herrische Stimme aus dem anderen Bett.
«Ich - oh, entschuldigen Sie, bitte. Meinen Sie wirklich?» Wendy Thompson war wieder hellwach geworden.
«Ja. Haben Sie sich schon einmal näher mit dem Rokoko beschäftigt?»
«Ich - nein, eigentlich nicht.»
«Sollten Sie auch nicht tun», sagte Tante Bea fest. Sie dachte einen Augenblick nach. «Alles Unsinn», sagte sie dann.
«Tatsächlich?»
«Ja. Ich möchte beinahe sagen: pure Albernheit.»
«Aha.»
Die alte Dame starrte vor sich hin. Sie sagte nichts, aber Wendy hatte das Gefühl, sobald sie die Augen schloß, würde Tante Bea wieder zustoßen. Sie war wie der Vogel in einer Kuckucksuhr, der sich schon Minuten vor dem Stundenschlag langsam und kratzend
aus seinem Häuschen schiebt und alle Leute im Zimmer mit nervöser Unruhe erfüllt.
«Zu Hause trinke ich abends immer eine Tasse Kakao», verkündete Tante Bea.
Wendy hatte genug. Sie konnte unmöglich bis vier Uhr morgens mit Tante Bea wach bleiben und abwechselnd «Tatsächlich?» und «Aha» sagen. «Ich glaube, Sie sollten sich hinlegen und versuchen zu schlafen, Miss Pentecost», sagte sie mutig.
«Das hätte keinen Zweck. Ich kann doch nicht einschlafen.» Pause. «Aber ich will Sie nicht wach halten, Miss Thompson», fugte sie in gekränktem Ton hinzu.
Wendy legte sich wieder zurecht. «Ich bin wirklich sehr müde. Gute Nacht, Miss Pentecost.»
«Gute Nacht.»
Ach, war das gut. Weiche Kissen, ein weiches Bett, wohlig müde Glieder. Wie die ersten Wellen der Flut kehrte der Schlaf langsam wieder.
«Sie haben doch keine Angst vor Mäusen?» fragte Tante Bea mit lauter Stimme.
«Ich - also, sehr gern mag ich si e nicht!» Wendy saß plötzlich wieder kerzengerade in ihrem Bett.
«Nun, dann werden Sie sich auf eine unruhige Nacht gefaßt machen müssen. Ich glaube, da drüben in der Kommode spielt eine ganze Mäusefamilie Verstecken.»
12
Am nächsten Morgen hatte das englische Wetter einen jener Purzelbäume geschlagen, für die es weltweit berühmt ist: Die Sonne strahlte von einem wolkenlos blauen Himmel herab, und das Land glich einem weichen Federbett aus Schnee. Alles war so sauber und klar, und nirgendwo gab es ein Anzeichen für das so nahe bevorstehende Chaos.
Wendy Thompson hatte schließlich - Tante Bea und allen Mäusen zum Trotz - doch wie ein Murmeltier geschlafen. Und als sie am Morgen die Augen aufschlug und plötzlich wieder die Hoffnungen und Ängste, die Pflichten, Sorgen und Freuden ihres Lebens vor ihr standen, sagte sie sich voller Zuversicht, daß der neue Tag, einerlei ob er gut, schlecht oder scheußlich ausfallen würde, so gut wie sicher eine Weile des Zusammenseins mit Mr. Pentecost für sie bereithielt, und darauf freute sie sich. Mr. Pentecost war freundlich und still, und er hatte Augen, die ganz plötzlich lächeln konnten.
Allerdings erwartete sie auch allerlei Ungewohntes. Zum Beispiel hatte sie noch nie in einem Kreis von lauter fremden Menschen gefrühstückt. Und keiner von ihnen schien auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, daß sie hier fremd war und sich ein wenig verloren fühlen mußte.
Mrs. Pentecost kam ihr zu Hilfe. «Also, Miss Thompson, Sie haben die Wahl. Mein Schwiegervater ißt zum Frühstück immer dasselbe: Porridge, Spiegeleier mit Speck und Würstchen, Toast, Orangenmarmelade. Und Kaffee. Mein Mann ißt nur ein Stück trockenen Toast und trinkt zwei Tassen Tee. Sie können gern das eine oder das andere haben oder auch etwas ganz anderes natürlich.»
Was Miss Thompson am liebsten zum Frühstück aß, war in Streifen geschnittener Toast, der in ein weichgekochtes Ei getunkt wurde. Aber das konnte man natürlich unmöglich bei anderen Leuten tun. Außerdem war von gekochten Eiern nicht die Rede gewesen. Sie sagte daher schüchtern: «Könnte ich vielleicht etwas
Weitere Kostenlose Bücher