Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
das mich umherwirbelt wie in einem Tornado.
Die Mailbox meines Handys quillt über vor Anrufen in Abwesenheit. Alle scheinen aus der Ferne in Sorge. Die Familie, die Freunde. Ich kann überhaupt nicht verstehen, warum. Alle bloß neidisch. Die wollen mich nur ausbremsen. Genau! Haben die überhaupt eine Ahnung, vor welch bahnbrechenden Aufgaben ich hier stehe? Ich weiß nicht mehr, wem ich was gesagt habe. Habe ich Ada schon erzählt, dass ich mich entschieden habe, hierzubleiben? In Berlin? Dazu gibt es schlicht keine Alternative. Muss sie halt mit Dir herkommen. Und was wird dann mit Wiebke? Ada wird sich schon damit arrangieren. Große Menschen kann man nun mal nicht für sich behalten, Profis kann man nur teilen.
Mami weint am Telefon.
»Hör doch mal mit dem Weinen auf, ist ja schrecklich.« Das ist mir alles zu viel.
Ich rufe ihre Mutter an und befehle ihr, sich um Ada zu kümmern. Ausgerechnet Omi, die sich eh schon so viel sorgt.
Irgendjemand hat meinen Vater angerufen, der plötzlich in der Stadt auftaucht. Er ist ganz unbeholfen, aber er freut sich für mich. Weswegen, verstehe ich nicht so richtig. Er glaubt ernsthaft, ich würde es besser machen als er selbst. Er hat die Familie verlassen, als ich so alt war wie Du jetzt. Nun wohnt er bei Ulf in Moabit, die beiden hängen den halben Tag vor dem Fernseher und gucken die langweilige Tour de France mit dem bekloppten Texaner Lance Armstrong. Beide beklagen sich bei mir, dass es anstrengend sei, so eng aufeinanderzuhocken. Das ist mir egal. Für mich war es auch immer anstrengend. Alles. Mit euch anderen.
Auf dem Weg zu Wiebke heble ich einen orangefarbenen Mülleimer von einem Laternenmast. Genau zwischen Monbijoupark und Museumsufer. Das wird die Kasse sein, ich muss sie nur noch auswaschen und anschließend mit Leinenhandtüchern auslegen. Im Discounter gibt es einen einheitlichen Eintrittspreis von zehn Euro. Genauer: 9,99 Euro. Das hat Roland eingeführt und war vielleicht mal witzig. Passt für mich aber gerade gar nicht. Wenn unsereiner in diesem Laden schon umsonst arbeitet und noch Geld mitbringt, soll keiner etwas bezahlen müssen. Höchstens in Form einer freiwilligen Zuwendung. Wir machen den Zuschauern ein Geschenk, und wenn sie wollen, können sie uns auch eines machen. Wenn nicht, dann eben nicht.
Mein Anzug ist zerrissen, und ich stinke wie ein Penner, die ganze Müllsuppe hat sich über mich ergossen. Ich trage den Mülleimer, hingebungsvoll wie Jesus sein Kreuz nach Golgatha, über die Museumsbrücke zum Theaterdiscounter, wohl ahnend, dass morgen Abend etwas endet. Nicht ich. Aber zumindest der Wahnsinn in Berlin muss ein Ende nehmen.
Ich soll Wiebke in Ruhe lassen. Das hat jetzt auch David gesagt, der andere Schauspieler, der den Bärentöter spielt. Und mein Vater. Vorhin beim Abendessen. Ich kann aber nicht alleine sein heute Nacht. Sonst stelle ich noch etwas an. Ich gehe mit ihr und versuche ruhig zu sein, während sie schläft. Ich schreibe Einladungen. Etwas kurzfristig, aber das fällt mir gar nicht auf. Alle wichtigen Menschen von der Zeitung und dem Fernsehen lade ich ein. Und natürlich Frisch. Meinen großen Theaterlehrer. Er hat wirklich diese Weisheit, und ich dachte, ich hätte ein wenig von ihr abbekommen. Aber wenn ich dann vor den Schauspielern stand und versuchte, sie anzuwenden, war da nichts. Kam nichts. Kein Blitzen. Kein Strahlen. Keine Weisheit.
Frisch könnte jedenfalls endlich mal kommen. Sich was von mir ansehen. Und von Frei, sein Ausstatter. Der erst recht. Dem bringe ich seine Einladung gleich persönlich. Der leidet doch auch immer so unter den Amateuren. Das haben wir in unzähligen Nächten bei Whiskey und Zigaretten in Hamburg besprochen.
Ich schätze Ihre Arbeit sehr und freute mich, wenn Sie kämen , schreibe ich auf die Einladung. Höflicher und formvollendeter kann man nicht sein. Das geht auch nur zu dieser vorgerückten Uhrzeit. Morgens um drei.
Endlich dämmert es, und ich packe meine Habseligkeiten zusammen. Es dauert unverschämt lange, bis ich ein Taxi bekomme, aber das Warten hat sich gelohnt. Die Fahrerin ist eine etwa vierzigjährige Französin. Sie trägt eine schwarze Anzughose und darüber eine weiße Bluse. Genau so hatte von Frei einmal eine Schauspielerin für Kleists Stück Amphitryon angezogen – weil die ukrainische Fitnesstrainerin von Frisch so aussah. Der Alte ist vor den Proben immer mit seinem kleinen grauen Turnbeutel in so ein Studio abgezogen. Großartig.
Die
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