Lieber Matz, Dein Papa hat ne Meise
freue mich über die Beschäftigung, über das Geld, das ich dabei verdiene, bin aber gleichzeitig ängstlich. Weil ich nicht weiß, inwieweit mein durchgeknalltes Verhalten hier schon die Runde gemacht hat. Der heiße Draht im Theater. Und dazu noch mit Stille-Post-Effekt. Bitte nicht. Ich möchte mich nicht dauernd erklären müssen. Ich schulde denen auch keine Erklärung. Nicht für die Krankheit. Nicht für meine Persönlichkeit. Nicht für meine Art. Nicht für meinen Geschmack und nicht für meine Entscheidungen.
Das ist meine Kampfansage an Essen.
So.
Gleich bin ich da.
Viva.
nun bin ich in Essen angekommen – und was soll ich sagen?
Untergebracht bin ich in einer typischen, zweckmäßigen Theaterwohnung. Ein Zimmer mit Bad und Küchenzeile. Hochparterre. Zwischen Erdgeschoss und erstem Stock. Beletage hat man früher dazu gesagt. Schöne Etage. Ein beschönigendes Wort bei dem Ausblick, den ich hier habe – auf eine triste Seitenstraße. Die Bude selbst sieht auch nicht viel besser aus. Teppichboden. Schmales Einzelbett. Gegenüber eine Schrankwand aus Eichenholzimitat mit kleinem Fernseher. Kleiner Schreibtisch. Das Tröstlichste ist das Badezimmer. Es ist hellblau gefliest und kommt mir vertraut vor.
Aber ich habe es wohl noch ganz gut getroffen. Die Kostüm-und die Bühnenbildnerin müssen im Theater wohnen. Ein Stockwerk unter der Intendanz. Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, das finde ich unmöglich und völlig unakzeptabel. Richtig unverschämt. Damit man gar nicht mehr vom Theater loskommt? Oder damit man eine bessere Kontrolle über sein Kreativpersonal hat? Diejenigen, die dafür verantwortlich sind, würden das bestreiten oder rein praktische Gründe vorschieben. Vielleicht stimmt das ja auch. Wahrscheinlich haben sie sich darüber gar keine Gedanken gemacht. Wahrscheinlich war es keine böse Absicht. Höchstens Fahrlässigkeit oder Ignoranz.
Das übliche Programm spult sich nun ab. Dramaturgin treffen. Pressefrau treffen. Schauspieler treffen. Chefdramaturg treffen. Vorstellungen besuchen. Musiker treffen. Mit Sonya essen gehen. Warten. Das fällt mir immer noch nicht leicht. Auch wenn der Drang, ständig etwas tun zu müssen, verschwunden ist.
Meine Angst bezüglich der Stillen Post war unbegründet. Keiner fragt nach, und wenn doch, dann so schwammig und unkonkret, dass ich leicht darüber hinwegfloskeln kann. Eigentlich sind alle sehr nett hier. Frisch. Motiviert. Unangestrengt. Unverbraucht und willens, etwas zu schaffen. Neuanfang eben.
Trotzdem kann mich die gute Stimmung nicht über eines hinwegtäuschen: Ich fühle mich ungerecht behandelt. Dieses Gefühl wird immer massiver, das merke ich mit jedem Gespräch, das ich führe. Meine drei Hausregiekollegen zum Beispiel sind bereits für mindestens zwei Stücke verplant. Und ich?
»Was machst du denn nach dem Kinderstück?«
»Ja, ääh? Pfff. Keine Ahnung.«
Wie peinlich. Das allein ist schon demütigend genug. Aber am schlimmsten ist es, wenn dann dieser mitleidige Blick dazukommt.
»Hey, Sebastian, ist doch trotzdem eine große Chance.«
So ein Quatsch. Seit wann ist denn eine Weihnachtsinszenierung eine Chance? Ich kenne keinen, über den gesagt wurde: Oh, der hat aber einen rauschenden Erfolg mit dem Kinderstück gefeiert. Passiert nicht. Man hört höchstens Sätze wie: »Och. War doch ganz nett … Nee, echt. Schön. Total schön. Und die Kinder, die freuen sich so. Die sind so unmittelbar bei der Sache. Das ist doch das ehrlichste Publikum, das man sich wünschen kann.«
Alles Unsinn! So ein Stück machen Assistenten, um sich für die große Bühne zu empfehlen. Das habe ich längst hinter mir. Mit Erfolg. In Hamburg und nicht in der Einkaufsstadt Essen! Essen ist das nackte Grauen. Schlimmer ist eigentlich nur noch Dortmund. Man kommt aus dem Bahnhof und steht schon mittendrin in der Einkaufsstadt. Die ganze Innenstadt ist ein einziges unüberdachtes Einkaufszentrum. Nur kommt das ein paar Wochen zu spät für mich. Weißt Du noch? Oooh, ich kauf mir was. Kaufen macht so viel Spaß. Ich könnt’ ständig kaufen gehen. Kaufen ist wunderschön! Das ist aus einem Song von Herbert Grönemeyer und passt nun gar nicht mehr zu mir. Aus der Meise, die zu einer Elster wurde, ist nun eine Eule geworden. Eine Eule, die ihren Kopf unter ihr Gefieder steckt.
Wenigstens gibt es in der Nähe des Theaters zwei tröstliche Orte. Auf diese Orte hat mich mein Theaterlehrmeister Frisch gebracht. Er hat mir ja sehr
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