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Lieber Onkel Ömer

Titel: Lieber Onkel Ömer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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betreten. Selbst wenn sie nur kurz mal nach Duisburg-Meiderich, Hamburg-Altona oder
     Berlin-Kreuzberg rübermachen wollten, wo sogar wir |207| Gastarbeiter ganz schön frei in unseren Gettos leben durften, wurden sie kaltblütig hinterrücks erschossen!
    Die Ostverluste der Deutschen sind zwar nicht so hoch wie unsere, aber über tausend Ossis wurden damals schon abgeknallt!
     Wen wundert es da, dass sie unter diesen schrecklichen Umständen alle Wessis hassten! Die waren viel reicher, viel weltgewandter,
     hatten größere Häuser, größere Autos und sogar eine höhere Lebenserwartung. Und das nicht nur wegen den vielen Mauerschützen!
    Heute hassen die Ossis die Wessis noch mehr: Seit der Wiedervereinigung beklagen sie sich nämlich, dass sie wegen den Wessis
     keine Arbeit mehr haben. Und die Wessis trauen sich nicht, zu sagen, dass ihre langjährige frühere Tätigkeit »Schlangestehen«
     auch keine seriöse Arbeit war. Weshalb man in ein Land, in dem es keine richtige Arbeit gab, so viele Vietnamesen als Hilfskräfte
     geholt hat, ist mir heute immer noch ein Rätsel! Die nannte man wahrscheinlich dort nicht Gastarbeiter, sondern Gastarbeitslose.
     Das einzig halbwegs Brauchbare, das die DDR in den vierzig Jahren geschaffen hat und vom Kommunismus in den Kapitalismus rübergerettet
     hat, ist der »grüne Pfeil«. Also, dass Autos unter Umständen auch bei Rot über die Ampel fahren dürfen. Ich meine, das ist
     natürlich nur brauchbar für Deutschland. In der Türkei braucht kein Mensch alberne grüne Pfeile, um bei Rot weiterzufahren.
     
    Lieber Onkel Ömer, ich kenne das aber alles auch nur vom Hörensagen, deshalb kann ich für nichts garantieren. Die Ossis haben
     mich nämlich nie in die DDR reingelassen. Die hielten mich wahrscheinlich für einen getarnten Wessi-Spitzel!
    |208| 1985 wollte ich mir nämlich, leichtsinnig wie ich bin, mit meiner Familie diese Problemzone mal angucken.
    Die westdeutschen Beamten an der Grenze winkten uns einfach gelangweilt durch, hielten uns Türken nicht mal eines Blickes
     für würdig. Hundert Meter weiter auf der DDR-Seite nahm man uns dagegen viel ernster. Dort, im real existierenden Sozialismus,
     galt der einzelne Mensch noch was, dachte ich mir, blöd wie ich damals war.
    Mit ernstem Blick durchblätterte der DDR-Beamte unsere Pässe. Er schaute sich jedes Passbild genau an – und dann den Besitzer.
     Plötzlich schrie er meine Frau an, dass sie ihn gefälligst angucken soll. Er beäugte das Foto und dann meine Frau. Meine Frau
     und das Foto. Bei Allah, wie lange dauert das denn noch, schimpfte ich innerlich. Er hatte verdammtes Glück, dass er in der
     besseren Position war. Normalerweise hätte ich niemanden meine Frau so lange anstarren lassen. Du weißt, bei uns im Dorf wurden
     Leute schon für weniger abgestochen!
    Nach zwanzig Minuten bekam Eminanim schließlich Halsschmerzen und setzte sich wieder richtig hin.Da brüllte der DDR-Beamte
     aufs Neue los:
    »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen, was fällt Ihnen ein? Ich lasse Sie gleich an die Seite fahren, und dann können Sie noch
     fünf Stunden warten. Schauen Sie mich gefälligst an!«
    Meine Frau war stinksauer! Auf Türkisch flehte ich sie an:
    »Eminanim, schau den Affen doch an, reiß dich zusammen! Provoziere diesen Idioten nicht noch mehr, und mach bitte nicht so
     ein unfreundliches Gesicht«, und redete dann auf Deutsch weiter: »Frau, bitte, schau den Herrn |209| Zollbeamten an. In der knappen Stunde hat er bestimmt nicht genug von dir gesehen. Zollbeamter zu sein ist im Sozialismus
     eine große Verantwortung und dazu eine ehrenvolle Aufgabe.«
    »Halt’s Maul! Dich habe ich nicht nach meinen Aufgaben gefragt«, bellte der zurück.
    Nach einer weiteren halben Stunde gab er uns die Pässe endlich zurück. Ein Glück, dachte ich, dass meine Tochter Nermin zum
     Anschauen noch zu klein ist.
    Wir folgten der Autoschlange durch die Grenzanlage und kamen zu einer winzigen Holzbaracke, in der schon wieder ein DDR-Beamter
     saß. Ich kurbelte gerade das Fenster runter, da brüllte er mir von links ins Ohr:
    »Was denken Sie sich eigentlich?«
    »Ich denke, ich muss Ihnen die Pässe geben«, stotterte ich ahnungslos.
    »Ich will wissen, was Sie sich dabei denken, ein Verkehrsschild zu missachten?«, sagte er böse.
    »Entschuldigung, ich habe nirgendwo ein Verkehrsschild gesehen«, antwortete ich wahrheitsgemäß.
    »Auf dem Verkehrsschild hinter Ihnen steht, dass Sie nur ranfahren dürfen, wenn

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