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Lieber Onkel Ömer

Titel: Lieber Onkel Ömer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ich Sie herwinke«, rief er laut und zeigte
     auf ein Schild, das zwanzig Meter abseits der Straße stand.
    »Oh, verzeihen Sie! Das muss ich übersehen haben, wie konnte mir das nur passieren?«, entschuldigte ich mich brav.
    »Sie haben ein Verkehrszeichen missachtet. Was machen wir nun mit Ihnen?«, fragte er mich, was ich sehr demokratisch fand.
     In der Zone wurde das Strafmaß also mit den Sündern abgesprochen.
    |210| »Fünfzehn Jahre Zwangsarbeit in Sibirien, und das in Unterhosen«, schlug meine Frau auf Türkisch vor.
    »Ich weiß es nicht. Möchten Sie vielleicht ein paar Pistazien?«, fragte ich den Vopo.
    »Wie bitte? Sie versuchen einen DDR-Beamten zu bestechen?«, brüllte er mich ziemlich verärgert an.
    »Aber nein, so war das doch nicht gemeint«, murmelte ich, auf frischer Tat ertappt.
    »Ein Gastarbeiter aus dem Westen versucht einen DDR-Beamten zu bestechen«, rief er quer über die Grenzanlage.
    »Ist Sibirien kälter als Deutschland?«, fragte ich leise. Lieber Onkel Ömer, als gebrochener Mann hockte ich nun in meinem
     Ford-Transit und wartete ergeben auf mein Urteil.
    »Sie müssen für die Ordnungswidrigkeit 50 DM bezahlen. Und das mit der Bestechung wollen wir mal vergessen, wenn Sie die Pistazien
     rübergeben«, schlug er vor, was ich sehr fär fand und ihm die ganze Tüte rüberschob.
    Danach musste ich dem Arbeitslosen- und Bauernstaat noch mal 80 DM wegen »zu langen Fahrens auf der linken Spur« spenden,
     obwohl die rechte Spur wegen Reparaturarbeiten abgesperrt war.
    Aber egal, nach der Zahlung von insgesamt 130 Mark Bußgeld und zwei Kilo Pistazien kamen wir endlich in West-Berlin an. Aber
     wir Idioten wollten ja unbedingt nach Ost-Berlin!
    Und natürlich fing die ganze Prozedur von vorne an: Die Westberliner Polizei würdigte uns keines Blickes, der DDR-Zöllner
     kassierte unsere Pässe und verschwand für Stunden. Dann kam er mit finsterem Gesichtsausdruck zurück und brüllte mich an:
    |211| »Der Schnurrbart muss ab! Auf dem Passfoto ist keiner. Mit Schnurrbart kann ich Sie nicht identifizieren.« Ich war wie vor
     den Kopf geschlagen. War der Kerl wahnsinnig? Von meinem größten Stolz sollte ich mich trennen? Seit Jahrzehnten züchtete
     ich dieses Prachtexemplar! Ein türkisches Familienoberhaupt ohne Schnurrbart, wo gab’s denn so was?
    »An meinen Schnurrbart lasse ich keinen ran!«, rief ich sauer.
    »Komm, Osman, gib dir einen Ruck. Schneid den Bart ab.Der wächst ja wieder nach«, versuchte meine Frau mich umzustimmen.
    Als auch noch die Kinder anfingen zu heulen, gab ich zähneknirschend nach und habe mich schweren Herzens mit Tränen in den
     Augen von meinem tollen Schnurrbart getrennt. Völlig nackt – ich meine, schnurrbartlos – betrat ich danach die Schalterhalle.
     Im Spiegel erkannte ich mein eigenes Gesicht nicht wieder und bin vor Scham fast gestorben. Eminanim versuchte mich zu trösten:
    »Du, Osman, das sieht doch gut aus. Macht dich mindestens zwei Tage jünger«, kicherte sie. Die Kinder, die gerade noch geheult
     hatten, lachten jetzt hämisch hinter meinem Rücken.Immerhin, wir durften weiterfahren.Ich bedeckte meine Blöße mit der linken
     Hand und gab Gas.
    Ein paar Meter weiter stand das nächste verdammte Zollhäuschen!
    Wenn es in der DDR damals auch nichts gab, Zollhäuschen hatten sie im Überfluss.
    »Die anderen können weiterfahren. Aber Sie dürfen nicht rein«, befahl der Grenzvopo und zeigte mit dem Finger auf mich.
    |212| »Aber ich habe doch gar keinen Schnurrbart mehr«, rief ich schockiert.
    »Sie dürfen nicht rein – zurück!«, wiederholte er barsch.
    »Lieber Herr Zollbeamter«, versuchte ich es auf die sanfte Tour, »lassen Sie mich bitte in die DDR. Ich habe den Karl Marx
     und Erich Honecker doch genauso gern wie Sie.«
    Aber selbst das nützte nichts. Er wurde sogar noch böser.
    Hätten diese DDR-Typen mich nicht vorher zurückschicken können, bevor sie mir meinen tollen Schnurrbart abrasiert hatten?
     
    Nach dem Fall der Mauer wollte ich unbedingt sofort in den Osten, um zu sehen, was man mir all die Jahre vorenthalten hatte.
     Aber ich landete jedes Mal in Polen.Irgendwie war die DDR nicht nur politisch, sondern auch geografisch verschluckt worden.
     Gleich hinter Helmstedt redeten plötzlich alle Menschen nur noch Polnisch. Hatten die Ossis etwa auch das ganze Land zum Tauschen
     mitgenommen, als sie nach der Freilassung in den Westen türmten?
    Die Wahrheit erfuhr ich erst, nachdem wir in Halle 4 einen neuen

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