Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lieber Onkel Ömer

Titel: Lieber Onkel Ömer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
übermütig, versammelten sich auf der Straße und
     brüllten: »Entweder kommt die D-Mark zu uns oder wir kommen zu ihr!« Der letzte sowjetische Staatschef war der Meinung, dass
     lieber der Westen sich mit denen rumärgern sollte, und hat den Eisernen Vorhang einfach hochgezogen. Die jahrelang eingesperrten
     Menschen stürmten heraus wie aus einem Dampfkessel kurz vorm Platzen. Da wurde allen klar, dass die große Mauer vorher eigentlich
     nur den Westen geschützt hatte.
    Kein Mensch im Westen wollte die Ossis in Wirklichkeit haben – außer Helmut Kohl und Axel Springer! Der eine hatte keine Wähler
     mehr, wollte sich damit welche von drüben beschaffen, und der andere glaubte, nicht genug Käufer zu haben, und wollte sein
     Käseblatt auch noch in der Zone verhökern.
    Bei dieser Wiedervereinigung der Deutschen ging alles so schnell und unvorbereitet, dass keiner kapierte, was da gerade passierte.
     Helmut Kohl wusste in der Eile nicht, was er lispeln sollte, und versprach »blühende Landschaften«. Daraus wurden aber nur
     »blühende Glatzen«. Ein anderer deutscher Politiker sagte: »Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.«
    Lieber Onkel Ömer, sei doch mal ehrlich, hast Du schon mal gesehen, dass eine zertrümmerte Wassermelone wieder zusammengewachsen
     ist und dann zu allem Überfluss sogar geblüht hat? Aber genau das feiern die Deutschen heute am 3. Oktober, den Tag der kaputten
     Wassermelone |205| … ich meine, den Tag der Deutschen Einheit! Aus diesem Grund haben sie sogar einen Teil der Berliner Mauer immer noch nicht
     abgerissen. Aber nicht als Touristen-Attraktion, sondern damit sie von beiden Seiten daran klagen und hemmungslos weinen können.
     Weil das mit dem Zusammenwachsen nämlich sogar nach zwanzig Jahren immer noch nicht so ganz funktioniert hat.
     
    Ich muss zugeben, dieser Gedenktag beantwortete plötzlich alle Fragen, die mich seit vierzig Jahren verrückt gemacht hatten.
     Jetzt weiß ich endlich, warum die Deutschen vor vier Jahrzehnten lieber uns Türken nach Alamanya geholt haben und nicht z.B.
     Japaner, Mexikaner oder Liechtensteiner: Weil wir nämlich eine Schicksalsgemeinschaft sind!
    Die Deutschen haben genauso ein heftiges Ostproblem wie die Türken. Nur mit dem Unterschied, dass sie als aufgeklärtes Volk
     wussten, woran sie litten – wir nicht!
    Als ich z.B. damals nach Alamanya kam, hatte ich noch nie was von Kurden gehört – diese Leute gab es nirgendwo, weder in Deutschland
     noch sonst wo auf der Welt. In der Türkei schon gar nicht!
    Unsere vertrauenswürdigen Generäle, die in der Vergangenheit alle zehn Jahre pünktlich wie die deutsche Post geputscht haben,
     um uns und unsere junge Demokratie vor irgendwelchen mysteriösen Feinden zu schützen, haben immer felsenfest behauptet, dass
     es so was wie Kurden nicht gibt, nie gegeben hat und niemals geben wird! Der Chef der 1980er-Militärjunta, Kenan Evren, meinte,
     die sogenannten Kurden wären nichts anderes als die Bergtürken da hinten im Osten der Türkei, und dieses komische |206| Wort »Kurde« sei durch deren Laufgeräusche im Schnee entstanden:
    »Kurd, kurd, kurd …«
    Der Kurde als solcher war also halt so was Ähnliches wie ein »TürkischerYeti« – nur nicht so friedlich!
    Als mein Nachbar Memo vor zwanzig Jahren in Deutschland seinem Kind nicht den Namen geben durfte, den er so gerne wollte,
     war ich viel empörter als er:
    »Memo, das kann doch nicht wahr sein! Diese unverschämten deutschen Behörden gehen jetzt aber wirklich zu weit. Das ist die
     übelste Art von Diskriminierung! Wir Gastarbeiter dürfen uns das nicht länger gefallen lassen«, hatte ich damals getobt.
    »Nicht die Deutschen, Osman. Das türkische Konsulat verbietet es mir, meinem Sohn einen anständigen kurdischen Namen zu geben.
     Bei meinen älteren Kindern war es doch leider genauso«, sagte er traurig.
    »Memo, eigentlich bist du auch selbst schuld! Warum gibst du deinem Kind denn nicht so einen hübschen Namen wie Osman oder
     Ömer«, hatte ich ihn zu der Zeit getröstet.
     
    Lieber Onkel Ömer, die Ostprobleme der Deutschen waren aber noch viel größer als unsere, die drohten sich gegenseitig sogar
     mit Atombomben! Stell Dir mal vor, die durften sich nicht mal sehen! Die deutschen Yetis – hier heißen sie, wie gesagt, Ossis
     – durften auch nicht die Zeitung lesen und die Fernsehsender gucken, die sie wollten. Die Ossis durften nicht mal die urdeutschen
     Gebiete wie Mallorca oder Gran Canaria

Weitere Kostenlose Bücher