Lieber Onkel Ömer
zwölftes Lebensjahr erreicht haben und somit geschlechtsreif
geworden sind, das weiß meine Lektorin leider auch nicht!
Lieber Onkel Ömer, erzähl das im Dorf bloß nicht weiter, dass Deine Gurken und Wassermelonen lauter Frauen sind! Nicht, dass
Du noch Deinen Stand von anderen Ständen trennen musst, wo nur lauter männliches Gemüse wie Kürbis, Spinat und Salat verkauft
werden!
So was machen die Deutschen dann aber komischerweise nicht. Die teilen schon aus Gewohnheit oder Durchtriebenheit alles in
Geschlechter auf, aber Versammlungen, Schwimmhallen, Strände oder Busse teilen sie nicht nach Geschlechtern wie in der Türkei.
Da frage ich mich, wozu dann der ganze Aufwand?
|220| Lieber Onkel Ömer, was ich aber eigentlich erzählen wollte, ist: Ohne diese kluge Lektorin hätte ich nie die Chance gehabt,
mein Buch zu Gesicht zu bekommen. Ich meine im doppelten Sinne!
Als ich dann endlich bei meinem Kunstwerk ankam, blieb ich wie angewurzelt stehen. Ich war wie gelähmt. Dieses eine tolle
Buch war mit Abstand das beste, das schönste und das interessanteste auf der gesamten Frankfurter Buchmesse! Warum sonst bin
ich denn wohl gerade bei diesem Buch wie angewurzelt stehen geblieben, obwohl es noch Millionen andere gibt, frage ich Dich?
Nach einer Stunde des Gelähmtseins stellte ich erschrocken fest, dass sonst niemand gelähmt war. Genau genommen, außer mir
war auch kein einziger Mensch da!
Meine tapfere Lektorin war leider nicht tapfer genug, jeden einzelnen Messebesucher an der Hand zu nehmen und zu meinem tollen
Buch zu schleppen.
Deshalb hatte ich dann gestern auf der Frankfurter Buchmesse den ganzen Tag total schlechte Laune und war völlig frustriert.
Gegen Abend rief meine Frau an und wollte wissen, wie es meinem neuen Buch denn geht.
»Dem geht’s leider wie einem Schiffbrüchigen«, schluchzte ich mit Tränen in den Augen. »Es ist völlig allein gelassen, ganz
schön verzweifelt und fristet sein Dasein von der übrigen Welt total abgeschnitten, wie auf einer einsamen Insel!«
»Und wie geht’s dir?«, fragte sie besorgt.
»Mir geht’s ein bisschen besser als ihm«, habe ich geantwortet, »ich darf mich wenigstens frei bewegen. Deshalb |221| bin ich von morgens bis abends durch die ganzen Hallen gelatscht und habe bisher hundertzweiundsiebzig Bücher geklaut, um
meine miese Laune ein bisschen aufzubessern!«
Um Dir von der unglaublichen Dimension meiner gestrigen schrecklichen Situation ein Bild machen zu können, musst Du nur versuchen,
Dir vorzustellen, dass in unserem riesigen Gemüsebasar kein einziger Mensch Deine Gurken anschauen, geschweige denn kaufen
will!
Lieber Onkel Ömer, ich küsse Dir, Tante Ülkü und allen Älteren in unserem schönen Dorf ganz herzlich mit großem Respekt die
erfahrenen Hände und allen Jüngeren mit viel Liebe die hübschen, unschuldigen Augen.
Eminanim und die Kinder grüßen Euch selbstverständlich auch und küssen den Älteren mit viel Respekt die Hände und den Jüngeren
mit viel Liebe die Augen.
Pass gut auf Dich auf, bleib gesund, iss genug Knoblauch und danke fünfmal am Tag Allah, dass Du in der Türkei mit Deinen
Gurken und Wassermelonen was Leckeres züchtest und keine ungenießbaren Bücher! Es ist mir viel lieber, wenn die Gurken unter
Deiner Aufsicht sind als Du unter staatlicher!
Dein Dich über alles liebender Neffe aus dem schon wieder ziemlich kalten Alamanya
|222| PS: Lieber Onkel Ömer, mir passieren hier irgendwie nur noch merkwürdige Sachen: Ich habe noch nicht mal den Schock aus Frankfurt
richtig verdaut, und dann so was: Eminanim und Ümmüyanim (Ulviyanim) haben mich vom Zug abgeholt, und noch in der Bahnhofshalle
kam eine mir völlig unbekannte junge Frau frontal auf mich zu, umarmte mich energisch und küsste mich herzlich auf beide Wangen.
»Hey, dich hab ich aber lange nicht gesehen, wie geht’s dir denn so?«, rief sie sehr freundlich.
Du kannst Dir ja wohl denken, wie perplex ich war. Erst recht, als ich sah, wie meine Frau mich wütend anstarrte. Sie durchbohrte
mich mit ihren Blicken und wartete sehr gespannt auf meine Antwort; die freundliche Dame nicht weniger – nur viel sympathischer!
»Öhm … danke der Nachfrage, gnädige Frau. Mir ging’s eigentlich ganz gut, wenigstens bis jetzt. Aber wenn ich ganz ehrlich
sein soll, ich kann mich momentan leider nicht erinnern, wo wir uns kennengelernt haben«, stotterte ich verlegen.
»Aber
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