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Lieber Osama

Lieber Osama

Titel: Lieber Osama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Cleave
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meines Mannes ab, aber ich hatte einfach nicht mehr die Kraft, ihm das zu sagen. Ich lag nur so da und starrte auf das Wasserglas von meinem Mann. Das Wasser darin war verdunstet und hatte innen am Glas eine dünne weiße Kruste hinterlassen. Seltsam, was so von einem übrig bleibt.
    - Jasper, bitte bleib bei mir. Nur ein paar Minuten.
    - Ich weiß nicht, ob das jetzt so gut ist, sagte er.
    Sein Gesicht kam mir so nahe, dass ich seinen Atem spürte. Er wollte etwas sagen, aber im selben Moment brüllte Petra aus dem Wohnzimmer: JASPER, WAS MACHST DU DA? KOMM SOFORT HER!
    Jasper strich mir die Haare aus dem Gesicht.
    - Ich muss jetzt gehen, sagte er.
    - Nur 5 Minuten, bitte.
    - Ich kann nicht, sagte Jasper. Ich kann Petra das nicht erklären. Du hast ja gesehen, wie eifersüchtig sie ist.
    - 2 Minuten.
    Wieder machte sich Petra bemerkbar: JASPER, ENTSCHEIDE DICH, ENTWEDER SIE ODER ICH. ABER ENTSCHEIDE DICH JETZT.
    Jasper stand achselzuckend auf.
    - Tut mir leid, sagte er. Aber wenn ich jetzt hier bleibe, wird alles nur noch schlimmer.
    - Für dich oder für mich?
    Jasper sah mich lange an.
    - Tut mir wirklich sehr leid, sagte er.
    Dann sah ich nur noch seinen Rücken, der sich ins Wohnzimmer bewegte. Nachdem ich ein bisschen geweint hatte, lag ich noch lange wach und hörte, wie sich Petra und Jasper im Flüsterton angifteten. Ein ekelhaftes Geräusch, so, wie wenn 2 fiese Insekten in einem Glas miteinander kämpfen. Osama, wenn du meine Meinung hören willst: Liebe hört sich anders an. Andererseits, was wissen wir schon davon?
    Es dauerte eine ganze Weile, aber dann gaben selbst Petra und Jasper Ruhe. Irgendwann schlief ich von den Pillen und dem vielen Alkohol ein, wachte aber bald wieder auf. Von draußen kam ein irrer Lärm. Ich stand auf und ging zum Fenster, wo ich mich am Rahmen festhielt. Ich blickte hoch zu den Hubschraubern, die über der Siedlung kreisten und mit ihren Suchscheinwerfern in jede Ecke leuchteten. Es war wie beim Diskoabend der Polizei, bloß ohne Eintritt. Aber der Spaßfaktor war derselbe. Nämlich gering.
    Noch schlimmer aber war die Aussicht, sich wieder hinzulegen und darauf zu warten, dass die Stimme meines Jungen sich meldete. Deshalb schlich ich mich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Ich musste mich an der Wand abstützen, um nicht hinzufallen. Petra schlief auf der Couch und Jasper auf dem Boden neben dem Fernseher. Beide hatten sich mit ihrem Mantel zugedeckt. Langsam und ganz leise kroch ich auf allen vieren zu Petra. Sie hatte sich zusammengerollt, damit sie auf die Couch passte, und aus dem Mantel ragte nur ihr Kopf. Eine Zeit lang schaute ich sie an, wahrscheinlich weil ich mich daran erinnern wollte, wie es war, so ruhig und fest zu schlafen.
    Petras Gesicht lag weich, reglos und gelblich im Licht, das von den Straßenlaternen ins Zimmer drang. Sobald aber ein Hubschrauber über uns hinwegknatterte, dass alle Scheiben zitterten, verzog sie im Schlaf die Brauen, und im grellen Licht der Suchscheinwerfer sah man den winzigen Puls ihrer Halsschlagader. Auf diesen Puls konzentrierte ich mich. Dennoch kam die Stimme meines Jungen immer näher. Als würde man an einem Senderknopf drehen, bis die richtige Frequenz gefunden war: M M Mam Maam Mami Mami MAMMIIII! Ich versuchte, diese Frequenz wieder zu verstellen, starrte angestrengt auf den Pulsschlag an Petras Hals. Der Pulsschlag hörte nicht auf, weil ein Puls das einfach nicht tut, weil es nicht seine Art ist. Dein Herz schlägt ja auch immer weiter wie eine hängen gebliebene Schallplatte, die Lichter in der Barnet Grove gehen an und aus, und die Flut, die in die Themse drückt und wieder abzieht, geht auf und ab, denn das ist eben das Leben, und dem ist es egal, ob du schlafen kannst oder nicht.

 

     
     
     
    L IEBER O SAMA , all das, was ich bisher geschrieben habe, geschah im Frühling, wo immer eins zum anderen führt. Alles war verdorben und traurig, und wer noch lebte und nicht zerfetzt und zerrissen war, hatte nichts Eiligeres zu tun, als zu vögeln, als wäre es sein letztes Mal. Im Grunde ging es nicht anders zu als in der freien Natur. Ich meine, ich komme zwar aus London, Osama, aber ich weiß, was auf dem Land vorgeht, ich sehe schließlich fern wie jeder andere auch. Frühling ist, wenn sich alles nur um Kampf, Tod und Fortpflanzung dreht, und London nach dem Anschlag machte es nicht anders. Es war, als wären wir wieder zu Tieren geworden. Du sahst die Leute im Bus und ahntest, dass sich unter ihren schönen,

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