Lieber tot als vergessen
hinaus und wackelte mit den Knien hin und her, und dabei kaute er unablässig am rechten Daumennagel. Sein Daumen ähnelte einer kurz aufgekochten Wurst, so runzlig, als sei er gegrillt und ein paar Tage im Kühlschrank gelassen worden. Über dem abgeknabberten Fingernagel wölbte sich ein großes Stück zernagte Haut wie eine Kuppel, ganz ähnlich wie die Glatze des Cartoonmännchens Elmer Fudd. Er zuckte wie ein Mann, dessen Hirn nicht mehr als ein hyperaktiver Flipperautomat war, ganz im Gegensatz zu dem schlanken, schlaksigen Christian Dexter, der mürrisch und regungslos ein paar Sitze von mir entfernt auf der anderen Seite saß.
»Ich will dir was über Schwarzkopien erzählen«, begann St. John, nachdem er seinen goldenen Whisky hinuntergekippt und den Alkoholdunst seufzend ausgeatmet hatte. »Sie kosten mich ’ne Menge Geld, und Ghea desgleichen, und... Carla auch. Ja, und Carla auch. Sie mag tot sein, aber sie ist noch im Geschäft.«
Er schaute mich an und wartete auf Zustimmung, aber ich zeigte keine. Ich dachte an die Inschrift auf Carlas schönem weißen Marmorgrabstein. Ihre Mutter hatte sie ausgesucht.
Charlotte Ball, die Sängerin Carla Blue, die einzige geliebte Tochter von Miranda und Charles. Gestorben am 22. November 1989 mit 27 Jahren. »So macht Erinn’rung an dein Leben reich.«
St. John hätte es auch nicht besser ausdrücken können.
»Du verstehst das doch, oder? Piraten, Bootlegger und Schwarzkopierer, das sind drei verschiedene Sorten, okay? Ein Bootlegger macht illegale Aufnahmen auf einem Konzert und knallt dann die Bänder für ein paar Mäuse raus. Keine Tantiemen für den Künstler, keine Prozente für den Manager, keine Investitionsrendite für die Plattenfirma. Bedauerlich. Ein Pirat kriegt altes Material in die Finger und stellt daraus eine LP, eine CD oder was weiß ich, zusammen, oder er erwischt irgendwo ’ne Kopie von Aufnahmen, die nie veröffentlicht wurden, wie das Black Album von Prince, und verkauft das Zeug. So... die meisten Piraten operieren in irgendwelchen Itakerländern mit lächerlichen Copyrightgesetzen, in Italien oder in Portugal zum Beispiel, und da machen sie nichts Illegales, solange sie nicht versuchen, hier bei uns zu verkaufen. Wiederum: keine Tantiemen für den Künstler, keine Prozente für den Manager, keine Investitionsrendite für die Plattenfirma. Bedauerlich. Ein Schwarzkopierer ist wieder was anderes: Der ist ein wirkliches Schwein. Er geht in einen Plattenladen, kauft ein Tape, nimmt es mit nach Hause, schiebt es in sein Doppeldeck und zieht Hunderte, Tausende Kopien. Das gleiche? Nein! Schlimmer! Viel schlimmer, denn die klauen unseren gottverdammten Umsatz! Die anderen, die tun nichts weiter, als uns unseren Anteil vorzuenthalten. Aber diese Schweine klauen uns Verkaufszahlen unserer LPs, und zwar genauso, wie wenn sie hinten auf den sprichwörtlichen Scheiß-Lastwagen springen und sie runterklauen!«
Er beugte sich wieder über mich, um den Blick der Stewardeß auf sich zu lenken. Der Flug dauerte nur eine Stunde, aber dieser Mann wollte sich nicht ohne einen Scotch erwischen lassen. Er war mir so nah, daß ich sein Zitronenduftwasser riechen und in sein Ohr gucken konnte, glänzend und sauber geschrubbt. Ich wandte das Gesicht ab.
»Und hier geht’s um Geld«, fuhr er fort, lehnte sich zurück und schnippte sich nicht vorhandene Stäubchen von der Hose. »Den größten Fisch hat die Polizei bisher in Glasgow erwischt, Der Kerl hatte elf Kopierdecks, die pro Woche zwanzigtausend Schwarzkopien ziehen konnten. Was das heißt? Rechnen wir mal. Bei drei Pfund pro Kassette sind das sechzigtausend Pfund die Woche, zweihundertvierzigtausend Pfund im Monat, ein Jahresumsatz von zwei Komma sieben Millionen Pfund — das ist mehr, als manche Plattenfirma im Jahr einnimmt! Was da beschlagnahmt wurde, war ein Drittel der geschätzten Schwarzkopie-Industrie! Kassetten im Wert von fast neun Millionen Pfund! Kein Wunder, daß die Schlitzaugen allmählich das Heroin sausen lassen und hier einsteigen! Das ist leichtverdientes Geld — deshalb... und dabei haben wir noch kein Wort über Videos verloren.« Seine massigen Schenkel schwangen hin und her, und Elmer Fudd wurde benagt wie ein Hundeknochen.
Ich trank meinen Gin aus und fing an, die Eiswürfel in dem durchsichtigen Plastikbecher kreisen zu lassen. »Und woher hat unser Freund, der Schwarzkopierer, die hier gekriegt?« fragte ich.
Elmer Fudd wurde noch einmal schmatzend abgesaugt und ploppte
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