Lieber tot als vergessen
ist nichts gegen den Schlamassel, in dem ich jetzt sitze.
»Kaffee?«
»Ja, warum nicht. Ohne Milch und Zucker.«
»Warum setzen Sie sich nicht?« rief ich aus der Küche, und ich redete mir ein, er sei nicht wichtig.
Che serà, serà.
Sollte der Wein seine Zauber Wirkung tun. Tassen, Tassen, wo waren die Tassen?
Er wußte, daß ich betrunken war. Ich sah, wie sich die Frustration in seinem harten Gesicht ausbreitete, als würde er mir am liebsten ein paar Ohrfeigen geben, um mich nüchtern zu machen. Er wollte über das Geschäft reden, und ich konnte nicht. Er machte mir angst, aber das sah er nicht. Ich wirkte zu entspannt, als daß er meine Angst hätte sehen können.
»Tut mir leid, das mit Ihrem Bruder.«
Er nickte und saß stumm da, während er seinen Kaffee trank. Er hatte sich das Jackett aufgeknöpft und saß vorgebeugt im Sessel, die spitzen Ellbogen auf die Knie gestützt. Schwarze Schnürschuhe aus weichem Leder, adrette schwarze Socken über schlanken Knöcheln. Die Seidenkrawatte mit dem roten Paisley-Muster war mit einer Klammer an dem weißen Baumwollhemd befestigt, und dieses steckte im schlanken Bund seiner Hose. Tony Levy hielt sich in Form. Er hatte breite, gerade Schultern und eine schmale Taille, und wie sein Bruder war er großknochig für seine Körpergröße. Seine Hände waren breit bei den Knöcheln, massig genug für den viereckigen Ring. Sie würden große Fäuste abgeben. Ich konnte ihn mir auf einem düsteren Schwarzweißfoto vorstellen, in weiten Satinshorts und knöchelhohen Sportstiefeln, die Schultern gestrafft, die Fäuste in den Handschuhen rechts und links vom Kopf, das Kinn an die Brust gedrückt — und die Augen blickten fest unter den dunklen Brauen hervor. Vielleicht hatte er daher die Delle in der Nase und den zerquetschten Knöchel an der rechten Hand. Ich wartete nicht ab. Ich warf sofort das Handtuch.
»Hören Sie, die Sache in der Zeitung, das war nicht richtig...«
»Yeah, schon gut. Die haben keine Ahnung. Die Adresse war nicht so wichtig.«
Was? O Gott. Er hatte den Standard noch gar nicht gelesen. Er sprach von dem Artikel in dem Anzeigenblättchen. Eine Meldung blinkte in meinem Kopf wie eine Warnleuchte, die durch den Alkoholdunst pulsierte. Ich hatte eine Galgenfrist. Er stellte seine halbleere Tasse auf den Boden und wollte aufstehen. »Hören Sie, ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen, aber — entschuldigen Sie, dies ist offensichtlich kein guter Zeitpunkt.«
Ich schaute ihn an und bemühte mich angestrengt, meine Augen scharfzustellen. Ich war gerettet. Jetzt war es Zeit, ihn zur Tür zu bringen. Aber nein, nicht ich. Ich lehnte mich statt dessen für einen Moment zurück und stürzte mich dann von neuem ins Getümmel. »Ich würde gern helfen, wenn ich kann. Ich glaube, ich weiß, wie Ihnen zumute ist... Na ja, fast. Carla war meine beste Freundin. Sie ist letzte Woche gestorben, wissen Sie. Sie war meine beste Freundin.« Ich versuchte, mein eigenes Elend im Zaum zu halten und seinem eine Atempause zu geben.
Tony sah mich ausdruckslos an, griff dann in die Tasche seines dunklen Jacketts und zog ein Foto hervor. Die Aufnahme zeigte eine nackte Frau auf einem zerwühlten Bett; sie schlummerte in einer abenteuerlichen Präsentierpose. Aber sie kam mir bekannt vor. »Sie sagten, Sie haben Freunde in der Musikbranche. Ich glaube, sie ist in der Musikbranche.«
»Wieso?«
»Ich hab’s bei ein paar anderen Sachen gefunden.« Mir fiel auf, wie kindlich sein East Londoner Akzent klang; sein th war ein f, wie es bei Kindern oft zu hören ist, in den halbbegriffenen Worten eines unreifen Verstandes. Aber Tony Levi war nicht unreif. Er war ein erwachsener Mann, Mitte Dreißig, geschmeidig und ausgefuchst wie nur jeder beliebige Broker in der City, der sein th wie ein th sprach. Vielleicht hatte er, wie alle andern hier in der Gegend, als die Wörter einmal funktionierten, sie einfach immer weiter so benutzt und sich seinen Verstand für andere Sachen aufgehoben.
»Sie kennen sie.« Das war keine Frage.
»Nun, ja. Ich weiß, wer sie ist.« Ich bemühte mich zu betonen, daß sie keine Freundin sei, und drehte das Bild hin und her, um das Gesicht besser sehen zu können.
»Wer ist sie denn?«
»Ich glaube... ja ja, sie sieht aus wie... Nicht zu fassen! Ja, ich glaube, es ist Cheryl LeMat. Die Frau von Christian Dexter, wissen Sie? Ghea Records?«
Kein Make-up, kein geföntes Haar, kein Studiolicht, keine Klebestreifen an den Brüsten oder
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