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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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beim Postamt vorbei, um zu sehen, ob die Post fertig zum Austragen war. Manchmal war sie um diese Zeit schon sortiert, manchmal nicht. An diesem Morgen nicht.
    Und jetzt kam auf dem Bürgersteig im hellen Licht des frühen Tages Leah auf ihn zu. Sie schob einen Kinderwagen mit einem etwa zwei Jahre alten kleinen Mädchen darin, das gegen die Fußstütze aus Metall strampelte. Ein weiteres Kind ging die Dinge ernster an und hielt sich am Rock seiner Mutter fest. Oder was eigentlich eine lange orangegelbe Hose war. Sie trug dazu ein weites, weißes Oberteil, etwas wie ein Unterhemd. Ihre Haare hatten mehr Glanz als früher, und ihr Lächeln, das er bisher noch nie zu sehen bekommen hatte, durchwärmte ihn mit Entzücken.
    Sie hätte fast eine von Isabels neuen Freundinnen sein können, die in der Mehrzahl entweder jünger oder erst seit kurzem in dieser Stadt waren, obwohl es auch ein paar ältere, früher eher zurückhaltende Ortsansässige gab, die, von dieser hellen neuen Ära emporgetragen, ihre einstigen Standpunkte fallengelassen und ihre Sprache geändert hatten, sich Mühe gaben, flott und forsch zu sein.
    Es hatte ihn ein wenig enttäuscht, keine neuen Zeitschriften im Postamt vorzufinden. Nicht, dass Isabel jetzt noch viel daran lag. Früher hatte sie für ihre Zeitschriften gelebt, die alle seriös und voller Denkanstöße waren, aber auch mit witzigen Karikaturen, über die sie lachte. Sogar die Anzeigen für Pelze und Juwelen hatten sie zum Lachen gebracht, und er hoffte immer noch, dass diese Zeitschriften sie beleben würden. Jetzt hatte er ihr wenigstens etwas zu erzählen. Über Leah.
    Leah begrüßte ihn mit einer neuen Stimme und gab vor, erstaunt zu sein, dass er sie erkannt hatte, da sie seitdem – wie sie sich ausdrückte – fast schon zu einer alten Frau geworden sei. Sie stellte ihm das kleine Mädchen vor, das nicht aufschauen mochte und weiter auf die Fußstütze eintrampelte, und den Jungen, der in die Ferne sah und vor sich hin murmelte. Sie neckte den Jungen, weil er ihre Kleidung nicht losließ.
    »Wir sind jetzt über die Straße, Bärchen.«
    Sein Name war David, und der des Mädchens war Shelley. Ray hatte diese Namen aus der Zeitung nicht in Erinnerung behalten. Ihm war, als seien beide Namen in Mode.
    Sie sagte, dass sie bei ihren Schwiegereltern wohnte.
    Nicht bei ihnen zu Besuch war. Sondern bei ihnen wohnte. Ihm fiel das erst später auf, und vielleicht hatte es ja nichts zu bedeuten.
    »Wir sind auf dem Weg zum Postamt.«
    Er sagte ihr, dass er gerade von dort kam, aber dass noch nichts sortiert war.
    »Ach, schade. Wir dachten, es könnte ein Brief von Papa da sein, nicht wahr, David?«
    Der kleine Junge hielt sich wieder an ihr fest.
    »Warten wir, bis alles sortiert ist«, sagte sie. »Vielleicht ist dann einer da.«
    Es fühlte sich an, als wollte sie sich noch nicht von Ray verabschieden, und Ray wollte es auch nicht, aber ihm fiel nichts Rechtes zu sagen ein.
    »Ich bin auf dem Weg zur Apotheke«, sagte er.
    »Ach ja?«
    »Ich muss für meine Frau ein Rezept einlösen.«
    »Ach, ich hoffe, sie ist nicht krank.«
    Da überkam ihn das Gefühl, einen Verrat begangen zu haben, und er sagte kurz angebunden: »Nein. Nichts Schlimmes.«
    Sie schaute jetzt an Ray vorbei und grüßte jemand anders mit derselben erfreuten Stimme, mit der sie noch vor wenigen Augenblicken ihn begrüßt hatte.
    Es war der Pfarrer der vereinigten Kirche, der neue oder ziemlich neue, der, dessen Frau das modernisierte Haus verlangt hatte.
    Sie fragte die beiden Männer, ob sie einander kannten, und sie antworteten, ja, schon. Beide sprachen in einem Ton, der andeutete, nicht gut, und der vielleicht eine gewisse Zufriedenheit durchscheinen ließ, dass es so war. Ray fiel auf, dass der Mann nicht seinen Stehkragen trug.
    »Er musste mich noch nicht wegen irgendwelcher Gesetzesverstöße einbuchten«, sagte der Pfarrer, und vielleicht dachte er dabei, er hätte humoriger sein sollen. Er schüttelte Ray die Hand.
    »Das trifft sich wirklich gut«, sagte Leah. »Ich wollte Ihnen schon immer einige Fragen stellen, und da sind Sie!«
    »Da bin ich«, sagte der Pfarrer.
    »Nämlich wegen der Sonntagsschule«, sagte Leah. »Ich habe hin und her überlegt. Ich hab hier die beiden Kleinen, die heranwachsen, und ich hab mir den Kopf zerbrochen, wie bald und wie das geht und überhaupt.«
    »Ah ja«, sagte der Pfarrer.
    Ray merkte, dass er einer von denen war, die ihren seelischen Beistand nicht gern in aller

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