Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
falls die Geschichte in der Vergangenheit spielte. Verkleidete Schauspieler, die viel davon hermachten, einander umzubringen. Glyzerintränen auf den Wangen der Damen. Dschungeltiere, die wahrscheinlich aus Zoos gebracht und aufgestachelt worden waren, sich wild zu gebärden. Menschen, die wieder aufstanden, nachdem sie auf verschiedenste Weise umgebracht worden waren, sobald die Kamera nicht mehr lief. Lebendig und wohlbehalten, obwohl man gerade gesehen hatte, wie sie erschossen wurden oder auf dem Richtblock ihren Kopf verloren, der dann in einen Korb rollte.
»Du solltest behutsamer sein«, sagte Isabel. »Sonst kriegt sie noch Albträume.«
Ray sagte, das würde ihn sehr wundern. Denn wirklich machte das Mädchen Miene, sich alles selbst zusammenzureimen, ohne verängstigt oder verwirrt zu sein. Zum Beispiel fragte sie gar nicht nach, was ein Richtblock war, auch die Vorstellung von Köpfen darauf schien sie nicht zu verwundern. In ihr war etwas, bemerkte er gegenüber Isabel, was sie drängte, alles, was man ihr erzählte, zu verarbeiten, statt sich einfach nur zu gruseln oder Mund und Nase aufzusperren. Eine Eigenart, durch die sie sich seiner Einschätzung nach schon von ihrer Familie abgenabelt hatte. Nicht, um sie zu verachten oder abzulehnen. Das Mädchen war einfach ungeheuer nachdenklich.
Aber was er dann sagte, bedrückte ihn, ohne dass er wusste, warum.
»Sie hat keine großen Aussichten, so oder so.«
»Wir könnten sie ja entführen«, sagte Isabel.
Da warnte er sie. Sei vernünftig.
»Daran ist gar nicht zu denken.«
Kurz vor Weihnachten (obwohl die strenge Kälte noch nicht eingesetzt hatte) kam Morgan eines Abends mitten in der Woche gegen Mitternacht auf die Polizeiwache, um zu sagen, dass Leah verschwunden war.
Soweit er wusste, hatte sie wie üblich die Karten verkauft, das Kassenfenster zugemacht, das Geld dahin getan, wo es hingehörte, und sich dann auf den Heimweg begeben. Er selbst hatte alles abgeschlossen, als der Film aus war, aber als er rauskam, war eine Frau aufgetaucht, die er nicht kannte, und hatte gefragt, wo Leah steckte. Es war die Mutter – Leahs Mutter. Der Vater war noch in der Fabrik, und Morgan hatte die Vermutung geäußert, dass das Mädchen sich vielleicht in den Kopf gesetzt hatte, ihn dort zu besuchen. Die Mutter schien gar nicht zu wissen, wovon er redete, also sagte er, sie könnten zur Fabrik fahren und nachschauen, ob das Mädchen dort war, worauf sie – die Mutter – weinte und ihn anflehte, das auf gar keinen Fall zu tun. Also fuhr Morgan sie heim, in der Hoffnung, das Mädchen könnte inzwischen zu Hause eingetroffen sein, doch nein, und dann dachte er, besser, er informierte Ray.
Der Gedanke, dem Vater das Verschwinden beibringen zu müssen, gefiel ihm gar nicht.
Ray sagte, sie sollten sofort zur Fabrik fahren – es bestand eine geringe Chance, dass sie dort war. Aber als sie den Vater auftrieben, hatte er sie natürlich nicht zu Gesicht bekommen, und er kriegte einen Wutanfall, weil seine Frau einfach weggegangen war, obwohl sie keine Erlaubnis von ihm hatte, das Haus zu verlassen.
Ray erkundigte sich nach Freundinnen und war nicht überrascht, zu erfahren, dass Leah keine hatte. Dann ließ er Morgan nach Hause gehen und fuhr selbst zu dem Haus, wo die Mutter sich ziemlich genau in dem aufgelösten Zustand befand, den Morgan beschrieben hatte. Die Kinder waren noch auf, oder zumindest einige von ihnen, und auch sie brachten kein Wort heraus. Sie zitterten, entweder vor Angst und vor Mißtrauen gegenüber dem Fremden im Haus oder vor Kälte, die, so fiel Ray auf, langsam zunahm, auch drinnen. Vielleicht erließ der Vater auch Regeln für das Heizen.
Leah hatte ihren Wintermantel angehabt – so viel bekam er aus ihnen heraus. Er kannte das ausgebeulte, braunkarierte Kleidungsstück und meinte, dass es sie zumindest eine Weile lang warm halten würde. Einige Zeit nach Morgans Erscheinen auf der Wache hatte schwerer Schneefall eingesetzt.
Als seine Schicht um war, fuhr Ray nach Hause und erzählte Isabel, was passiert war. Dann fuhr er wieder weg, und sie versuchte nicht, ihn aufzuhalten.
Eine Stunde später war er zurück, ohne Ergebnisse und mit der Nachricht, dass die Straßen wahrscheinlich für den ersten großen Schneesturm des Winters gesperrt werden würden.
Am Morgen war das dann eingetreten; die Stadt war zum ersten Mal im Jahr abgeschnitten, und die Schneepflüge versuchten nur noch, die Hauptstraße offen zu
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