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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Gemeindemitglied zu begehen war schlimm genug, aber statt damit so diskret wie möglich umzugehen und sich davonzuschleichen, um rehabilitiert zu werden oder in irgendeiner gottverlassenen Gemeinde in der finstersten Provinz Dienst zu tun, hatte sich der Pfarrer dazu entschieden, es von der Kanzel auszuposaunen. Er hatte es mehr als eingestanden. Alles war nur Heuchelei gewesen. Sein Herunterbeten des Evangeliums und der Gebote, an die er nicht voll und ganz glaubte, und besonders seine Predigten über Liebe und Sexualität, seine konventionellen, furchtsamen und ausweichenden Ratschläge: alles Heuchelei. Jetzt war er ein befreiter Mann, frei, ihnen zu sagen, was für eine Erleichterung es war, das Leben des Körpers zusammen mit dem Leben der Seele zu feiern. Die Frau, die das an ihm vollbracht hatte, war offenbar Leah. Ihr Mann, der Musiker, so hörte Ray, war einige Zeit zuvor gekommen, um sie zu holen, aber sie hatte nicht mit ihm gehen wollen. Er hatte dem Pfarrer die Schuld daran gegeben, aber er war ein Trunkenbold – der Ehemann –, also hatte niemand gewusst, ob man ihm glauben konnte oder nicht. Seine Mutter jedoch musste ihm geglaubt haben, denn sie hatte Leah hinausgeworfen und die Kinder dabehalten.
    Für Ray war das alles widerlicher Klatsch. Ehebrüche und Trunkenbolde und Skandale – wer hatte recht und wer nicht? Was lag schon daran? Das Mädchen war herangewachsen, um sich aufzutakeln und herauszumachen wie alle anderen. Wie sie ihre Zeit verschwendeten, wie sie ihr Leben verschwendeten, die Menschen, die alle immer neuen Reizen nachjagten und sich nicht um das kümmerten, worauf es ankam.
    Natürlich war früher, als er noch mit Isabel reden konnte, alles anders. Nicht, dass Isabel nach Antworten gesucht hätte – eher hätte sie ihm das Gefühl vermittelt, dass mehr an einer Sache war, als er bisher in Erwägung gezogen hatte. Und am Schluss hätte sie gelacht.
    Bei der Arbeit kam er ganz gut zurecht. Die Kollegen fragten ihn, ob er in der Bowling-Mannschaft mitmachen wollte, und er dankte ihnen, sagte aber, er habe keine Zeit. Eigentlich hatte er viel Zeit, aber die musste er bei Isabel verbringen. Ausschau halten nach jeder Veränderung, jeder Erklärung. Sich nichts entgehen lassen.
    »Sie heißt Isabel«, ermahnte er die Schwestern, wenn sie sagten: »Na dann, meine Dame«, oder: »So, junge Frau, jetzt drehn wir uns auf die andre Seite.«
    Dann gewöhnte er sich daran, sie so mit ihr reden zu hören. Es gab also doch Veränderungen. Wenn nicht bei Isabel, so bei ihm selbst.
    Eine ganze Zeit lang hatte er sie einmal am Tag besucht.
    Dann ging er jeden zweiten Tag zu ihr. Dann zwei Mal in der Woche.
     
     
    Vier Jahre. Er dachte, das musste an einen Rekord herankommen. Er fragte die Pflegerinnen, ob das stimme, und sie sagten: »Na ja, nicht weit weg.« Es war bei ihnen üblich, auf alles nur vage zu antworten.
    Er hatte sich von der hartnäckigen Vorstellung verabschiedet, dass sie noch dachte. Er wartete nicht mehr darauf, dass sie die Augen aufschlug. Er brachte es nur nicht fertig, fortzugehen und sie alleinzulassen.
    Sie hatte sich von einer sehr dünnen Frau nicht in ein Kind verwandelt, sondern in ein staksiges, schlecht zusammengefügtes Knochenhäufchen mit einem vogelartigen Haarschopf, und sie konnte bei ihren unregelmäßigen Atemzügen jeden Augenblick sterben.
    Im Krankenhaus gab es einige große Räume für Rehabilitation und Krankengymnastik. Meistens sah er sie nur, wenn sie leer waren, alle Gerätschaften weggeräumt und das Licht aus. Aber eines Abends, als er fortging, nahm er aus irgendeinem Grund einen anderen Weg durch das Gebäude und sah noch Licht brennen.
    Und als er nachschauen ging, sah er, dass noch jemand dort war. Eine Frau. Sie saß breitbeinig auf einem der aufblasbaren Gymnastikbälle, ruhte einfach aus oder versuchte vielleicht, sich daran zu erinnern, wohin sie als Nächstes musste.
    Es war Leah. Auf den ersten Blick erkannte er sie nicht, aber dann schaute er noch einmal hin, und es war Leah. Er wäre vielleicht nicht hineingegangen, wenn er sie gleich erkannt hätte, aber jetzt war er schon auf halbem Wege zum Lichtschalter. Sie sah ihn.
    Sie glitt von ihrem Sitz. Sie war für irgendeinen Sport gekleidet und hatte tüchtig zugenommen.
    »Ich dachte immer, irgendwann werde ich Ihnen begegnen«, sagte sie. »Wie geht es Isabel?«
    Es überraschte ihn ein wenig, dass sie Isabel beim Vornamen nannte oder überhaupt von ihr sprach, als hätte sie sie

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