Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
halten. Fast alle Geschäfte hatten zu, in dem Stadtteil, in dem Leahs Familie wohnte, war der Strom ausgefallen, und daran war nichts zu machen, bei dem Sturm, der die Bäume peitschte und niederbeugte, bis sie aussahen, als würden sie den Boden auffegen.
Der Tageswachtmeister hatte eine Idee, die Ray nicht eingefallen war. Er gehörte der vereinigten Kirche an, und ihm – oder seiner Frau – war bekannt, dass Leah jede Woche für die Frau des Pfarrers bügelte. Ray und er gingen zum Pfarrhaus, um sich zu erkundigen, ob irgendjemand dort etwas wusste, was Leahs Verschwinden erklären konnte, doch ohne Ergebnis, und nach diesem kurzen Hoffnungsschimmer schien sich die Spur gänzlich zu verlieren.
Ray war ein wenig überrascht, dass das Mädchen noch eine andere Arbeit angenommen und nichts davon gesagt hatte. Obgleich das, verglichen mit dem Kino, kaum so etwas wie ein Aufbruch in die große weite Welt war.
Er versuchte, nachmittags zu schlafen, und brachte es auf ungefähr eine Stunde. Isabel bemühte sich, beim Abendessen eine Unterhaltung in Gang zu bringen, aber nichts verfing. Ray kam immer wieder auf den Besuch bei dem Pfarrer zu sprechen, dass die Frau, soweit sie konnte, hilfsbereit und besorgt gewesen war, aber dass er – der Pfarrer – sich nicht ganz so benommen hatte, wie man es von einem Pfarrer eigentlich erwartete. Er hatte ungeduldig die Tür aufgemacht, als wäre er gerade beim Schreiben seiner Predigt oder so etwas unterbrochen worden. Er hatte seine Frau gerufen, und als sie kam, musste sie ihm in Erinnerung rufen, wer das Mädchen war. Du weißt doch, das Mädchen, das kommt und beim Bügeln hilft? Leah? Dann hatte er gesagt, dass er hoffte, es würde sich bald etwas ergeben, und dabei versucht, die Tür zentimeterweise gegen den Wind zu schließen.
»Was hätte er denn sonst tun sollen?«, fragte Isabel. »Beten?«
Ray dachte, das hätte nicht geschadet.
»Das hätte alle nur in Verlegenheit gebracht und die Sinnlosigkeit offenbart«, sagte Isabel. Dann fügte sie hinzu, dass er vermutlich ein sehr moderner Pfarrer war, der das Symbolische bevorzugte.
Irgendwie musste man sich nach ihr auf die Suche machen, trotz des Wetters. Hinterhofschuppen und ein alter, seit Jahren unbenutzter Pferdestall mussten aufgebrochen und durchstöbert werden, falls sie Schutz gesucht hatte. Nichts kam zum Vorschein. Der örtliche Radiosender wurde alarmiert und verbreitete eine Beschreibung.
Falls Leah versucht hatte zu trampen, dachte Ray, konnte sie mitgenommen worden sein, bevor der Schneesturm einsetzte, was gut oder schlecht sein konnte.
Der Rundfunk verkündete, dass sie von etwas unterdurchschnittlicher Größe war – Ray hätte gesagt, von etwas überdurchschnittlicher – und dass sie glatte mittelbraune Haare hatte. Er hätte gesagt, dunkelbraune, fast schwarze.
Ihr Vater beteiligte sich nicht an der Suche; auch keiner von ihren Brüdern. Allerdings waren sie jünger als Leah und hätten ohne die Erlaubnis ihres Vaters sowieso nicht aus dem Haus gedurft. Als Ray zu Fuß zu dem Haus ging und sich zur Haustür durcharbeitete, wurde sie kaum geöffnet, und der Vater verschwendete keine Zeit, ihm zu sagen, dass das Mädchen höchstwahrscheinlich durchgebrannt war. Ihre Strafe läge nun nicht mehr in seinen Händen, sondern in denen Gottes. Ray erhielt keine Einladung, hereinzukommen und sich aufzuwärmen. Vielleicht wurde im Haus immer noch nicht geheizt.
Der Sturm legte sich schließlich, um die Mitte des nächsten Tages. Die Schneepflüge fuhren los und räumten die Straßen der Stadt. Die Kreispflüge übernahmen die Landstraße. Den Fahrern wurde gesagt, die Augen offen zu halten nach einer erfrorenen Person in den Schneewehen.
Am Tag danach kam der Postwagen durch, und ein Brief traf ein. Er war nicht an jemanden in Leahs Familie gerichtet, sondern an den Pfarrer und seine Frau. Er war von Leah, mit der Nachricht, dass sie geheiratet hatte. Der Bräutigam war der Sohn des Pfarrers, der in einer Jazzband Saxophon spielte. Er hatte am Ende der Seite die Worte »Da staunt ihr!« hinzugefügt. So hieß es zumindest, obwohl Isabel fragte, wie konnten die Leute das wissen, außer sie hatten im Postamt die Angewohnheit, Briefumschläge mit Dampf zu öffnen.
Der Saxophonspieler war nicht in dieser Stadt aufgewachsen. Sein Vater hatte damals eine andere Pfarrei. Und er kam nur sehr selten zu Besuch. Die meisten Leute hätten nicht einmal sagen können, wie er aussah. Er ging nie zum
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