Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)
bringen können, die Augen aufzuschlagen oder überhaupt von ihm Notiz zu nehmen.
»Kümmre dich nicht um die«, sagte Belle. »Die ist völlig weg. Spürt wahrscheinlich gar nichts. Morgen ist sie wieder munter wie ein Fisch im Wasser. Oder auch nicht.«
Ihre Worte klangen ein wenig nach sicherem Fachwissen, nach der Abgeklärtheit eines ehemaligen Frontkämpfers. Sie saß im Bett und trank etwas Orangegelbes durch einen bequem geknickten Strohhalm. Sie sah viel jünger aus als die Frau, die er erst vor so kurzer Zeit ins Krankenhaus gebracht hatte.
Sie wollte wissen, ob er genug Schlaf bekam, ob er einen Imbiss gefunden hatte, der ihm gefiel, ob das Wetter nicht zu heiß für Spaziergänge war, ob er Zeit gefunden hatte, das Königliche Museum von Ontario zu besuchen, wie sie ihm geraten hatte.
Aber sie konnte sich nicht auf seine Antworten konzentrieren. Sie schien in einem Zustand ständiger Verwunderung zu sein. Beherrschter Verwunderung.
»Ach, das muss ich dir erzählen«, sagte sie und unterbrach ihn mitten in seiner Erklärung, warum er nicht ins Museum gegangen war. »Nun schau nicht so besorgt drein. Du bringst mich zum Lachen, wenn du dieses Gesicht aufsetzt, und dann tut meine Naht weh. Warum in aller Welt soll ich überhaupt auf die Idee kommen, zu lachen. Eigentlich ist es nämlich eine fürchterlich traurige Angelegenheit, eine Tragödie. Du weißt doch von meinem Vater, was ich dir von meinem Vater erzählt habe …«
Ihm fiel auf, dass sie Vater sagte und nicht Daddy.
»Mein Vater und meine Mutter …«
Sie schien nach Worten zu suchen und fing von vorn an.
»Das Haus war damals in besserem Zustand als bei deiner Ankunft. Ist ja klar. Wir haben das Zimmer oben im ersten Stock als Badezimmer benutzt. Natürlich mussten wir das Wasser rauf- und runtertragen. Erst später, als du kamst, habe ich das unten benutzt. Das mit den Regalen drin, weißt du, dass das die Speisekammer war?«
Wie konnte sie vergessen haben, dass er es war, der die Regale herausgenommen und das Badezimmer eingebaut hatte?
»Na, kommt ja nicht drauf an«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Ich hatte mir also Wasser heiß gemacht, und ich trug es nach oben, um mich abzuseifen. Und ich zog mich aus. Musste ich ja. Über dem Waschbecken war ein großer Spiegel, weißt du, es hatte ein Waschbecken wie ein richtiges Badezimmer, nur dass man den Stöpsel rausziehen und das Wasser wieder in den Eimer laufen lassen musste, wenn man fertig war. Die Toilette war woanders. Jetzt hast du eine Vorstellung. Ich machte mich also daran, mich zu waschen, und ich war natürlich splitternackt. Es muss gegen neun Uhr abends gewesen sein, also noch hell. Es war im Sommer, hab ich das erwähnt? Das kleine Zimmer, das nach Westen geht?
Dann hab ich Schritte gehört, und natürlich war es Daddy. Mein Vater. Er war also damit fertig, Mutter zu Bett zu bringen. Ich hörte die Schritte die Treppe raufkommen, und mir fiel auf, dass sie schwerer klangen. Irgendwie ungewöhnlich. So voller Absicht. Oder vielleicht war das nur hinterher mein Eindruck. Man neigt dazu, die Dinge hinterher zu dramatisieren. Die Schritte hielten direkt vor der Badezimmertür an, und wenn ich überhaupt was dachte, dann dachte ich: Ach, er muss müde sein. Ich hatte die Tür nicht abgeriegelt, weil es natürlich gar keinen Riegel gab. Man nahm einfach an, dass jemand drin war, wenn die Tür zu war.
Er stand also draußen vor der Tür, und ich dachte mir nichts dabei, und dann machte er die Tür auf und stand einfach da und sah mich an. Ich muss erklären, was ich meine. Er sah mich von oben bis unten an, nicht nur mein Gesicht. Ich schaute in den Spiegel, und er sah mich im Spiegel an und alles, was hinten war und was ich nicht sehen konnte. Es war überhaupt kein normaler Blick.
Ich werd dir sagen, was ich dachte, ich dachte: Er schlafwandelt. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, denn man soll jemanden, der schlafwandelt, nicht erschrecken.
Aber dann sagte er: ›Entschuldige‹, und da wusste ich, dass er nicht schlief. Aber er sprach mit so einer komischen Stimme, ich meine, seine Stimme war so seltsam, ganz, als wäre er sauer auf mich. Oder wütend. Keine Ahnung. Dann ließ er die Tür auf und ging einfach den Flur hinunter. Ich hab mich abgetrocknet und mein Nachthemd angezogen, bin ins Bett gegangen und gleich eingeschlafen. Als ich am Morgen aufstand, war das Waschwasser immer noch da, und ich mochte nicht ran, aber schließlich hab
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