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Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition)

Titel: Liebes Leben: 14 Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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ich’s runtergebracht.
    Doch alles schien ganz normal zu sein, er war schon auf und tippte. Er hat nur guten Morgen gerufen und mich dann gefragt, wie man ein Wort buchstabiert. Wie er’s oft gemacht hat, weil ich besser buchstabieren konnte. Also hab ich’s ihm gesagt, und dann hab ich gesagt, er soll richtig buchstabieren lernen, wenn er Schriftsteller werden will, sonst wird das nichts. Aber später an dem Tag, als ich Geschirr abwusch, kam er und stellte sich dicht hinter mich, und ich bin erstarrt. Er sagte nur: ›Belle, es tut mir leid.‹ Und ich dachte: Hätte er das bloß nicht gesagt. Es machte mir Angst. Ich wusste, er meinte es ehrlich, aber er brachte es so zur Sprache, dass ich reagieren musste. Ich sagte nur: ›Schon gut‹, aber ich brachte es nicht fertig, das mit ungezwungener Stimme zu sagen, als wäre es wirklich wieder gut.
    Ich konnte es einfach nicht. Ich musste ihm zu verstehen geben, dass er uns verändert hatte. Ich ging raus, das Spülwasser wegschütten, dann machte ich mich wieder an die Arbeit, und kein Wort mehr. Später half ich Mutter von ihrem Schläfchen auf, und ich hatte das Abendessen fertig, und ich rief ihn, aber er kam nicht. Ich sagte zu Mutter, dass er spazieren gegangen sein musste. Das machte er oft, wenn er beim Schreiben nicht vorankam. Ich schnitt Mutter das Essen auf ihrem Teller klein, aber ich musste die ganze Zeit an widerwärtige Dinge denken. Vor allem an Geräusche, die ich manchmal aus dem Schlafzimmer hörte, wo ich mir dann die Ohren zuhielt, um sie nicht zu hören. Jetzt stellte ich mir Fragen über Mutter, die dasaß und ihr Abendbrot aß, und ich fragte mich, was sie darüber dachte oder überhaupt davon begriff.
    Ich hatte keine Ahnung, wohin er gegangen war. Ich machte Mutter fertig fürs Bett, obwohl das seine Aufgabe war. Dann hörte ich den Zug kommen und ganz plötzlich den Lärm und das Kreischen, das waren die Bremsen, und ich muss gewusst haben, was passiert war, aber ich weiß nicht genau, ab wann ich’s wusste.
    Ich hab dir’s schon erzählt. Ich hab dir erzählt, er wurde vom Zug überfahren.
    Aber ich sag dir was, und ich sag’s dir nicht, um dich zu quälen. Anfangs konnte ich es nicht ertragen, und so lange wie möglich redete ich mir ein, dass er zwischen den Gleisen ging und völlig in Gedanken war und den Zug überhaupt nicht hörte. So hieß es jedenfalls. Ich mochte nicht daran denken, dass es darin um mich ging, oder gar an das, worum es eigentlich ging.
    Sex.
    Jetzt weiß ich es. Jetzt habe ich es wirklich verstanden und auch, dass niemand schuld war. Schuld daran war Sex, in einer tragischen Situation. Ich, die aufwuchs, und Mutter so, wie sie war, und Daddy natürlich so, wie er war. Nicht meine Schuld oder seine.
    Man sollte das zugeben, meine ich nur, es sollte Orte geben, wo man hingehen kann, wenn man in so einer Situation ist. Und sich nicht schämen und deswegen Schuldgefühle haben muss. Wenn du denkst, dass ich Bordelle meine, hast du recht. Falls du an Freudenmädchen denkst, hast du wieder recht. Verstehst du?«
    Jackson, der über ihren Kopf hinwegsah, sagte ja.
    »Ich fühle mich so befreit. Nicht, dass ich die Tragödie nicht mehr empfinde, aber ich bin raus aus der Tragödie, das meine ich. Es sind nur die Fehler der Menschheit. Du darfst nicht denken, bloß weil ich lächle, dass ich kein Mitleid habe. Ich habe großes Mitleid. Aber ich muss sagen, ich bin erleichtert. Ich muss sagen, ich fühle mich irgendwie glücklich. Es ist dir doch nicht peinlich, dir das alles anzuhören?«
    »Nein.«
    »Dir ist klar, dass ich in einem Ausnahmezustand bin. Ich weiß, ich bin’s. Alles so klar. Ich bin so dankbar dafür.«
    Die Frau im Bett nebenan hatte währenddessen nicht mit ihrem regelmäßigen Stöhnen nachgelassen. Jackson hatte das Gefühl, der Rhythmus sei in seinen Kopf eingedrungen.
    Er hörte die schmatzenden Schuhe der Krankenschwester auf dem Flur und hoffte, sie würden in dieses Zimmer kommen. Was sie taten.
    Die Schwester sagte, dass es Zeit sei für die Schlaftablette. Er hatte Angst, es würde von ihm verlangt werden, Belle einen Gutenachtkuss zu geben. Ihm war aufgefallen, dass im Krankenhaus viel geküsst wurde. Er war froh, dass, als er aufstand, davon keine Rede war.
    »Dann bis morgen.«
     
     
    Er wurde früh wach und beschloss, vor dem Frühstück einen Spaziergang zu machen. Er hatte ganz gut geschlafen, sagte sich aber, er sollte sich eine Pause von der Krankenhausluft gönnen. Nicht, dass er

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