LIEBES LEBEN
moralischer Vollkommenheit. Ich, die ich hier sitze und einen Mann auf der anderen Seite des Restaurants begehre. Ob man den Donner wohl noch hört, nachdem einen der Blitz getroffen hat?
Aber ich lasse mir seine Bemerkungen über Arin durch den Kopf gehen. Sind seine Eltern nicht gläubig? Und warum sollte es sie aufregen, wenn Arin von ihrem Glauben spricht? Und noch wichtiger: Warum hat Kevin sie nicht unterstützt?
Ich beobachte den Mann mir gegenüber genau und würge dabei einen Bissen Brot hinunter. Wie immer interpretiere ich zu viel hinein. Da bin ich mir sicher.
25
Am Ende unserer Verabredung küsst mich Kevin als vollkommener Gentleman platonisch auf die Wange, was mich etwas verwirrt. Brea begrüßt mich schon an der Tür und zieht mich ungeduldig herein. Mit unter dem Kinn gefalteten Händen fragt sie:
»Und?«
Die beiden kleinen Möpse, die sie nach ihrer Hochzeit gekauft hat, knabbern an meinen Füßen, und ihre eingedrückten Schnauzen zeigen ihre Verärgerung darüber, dass sie ihr Frauchen jetzt mit mir teilen müssen. Sie scheinen ihre Laune an mir auslassen zu wollen.
»Erzähl schon, erzähl schon! Ist er wirklich so traumhaft, wie er aussieht?«, fragt Brea.
»Ich gehe nach oben«, verkündet John kopfschüttelnd. »Ich ertrage es nicht, euch zuzuhören, wie ihr den Untergang eines weiteren Mannes plant.«
»Ach du!« Brea küsst ihn spielerisch.
»Gute Nacht, John«, sage ich und schaue zu, wie er sich davonschleicht. »Kevin ist sehr nett, Brea. Er ist ...« Aber ich komme ins Stocken. Ich kann Brea nichts vormachen. Ich habe mich den ganzen Abend darauf vorbereitet, und jetzt versetzt es mir einen Stich, wenn ich anfange, ihr zu erzählen, wie wunderbar Kevin ist. Ich bin in Tränen aufgelöst, und sie fließen in Strömen, als mir klar wird, wie viel es mir ausmacht, Seth mit einer anderen Frau zu sehen. »Es war wunderschön, bis ...« - ich schniefe - »man mich mal wieder versetzt hat.« Ich klopfe mir selbst auf die Brust. »Ich habe Schluss gemacht. Ich habe Seth einen Abschiedskuss gegeben. Wie konnte er es da wagen, im gleichen Restaurant zu erscheinen!«
»Ash, was ist denn passiert? Wovon in aller Welt redest du eigentlich?«
»Seth war da.« (Lautes Heulen.) »Mit einem Rotschopf.« (Noch einmal Heulen.) Wenn ich in Zungen geredet hätte, hätte sie wahrscheinlich mehr verstanden. Aber so heule ich nur. Die Juden haben die Klagemauer, ich habe Brea. Ohne etwas vorzutäuschen, ohne Fassade bin ich einfach nur Ashley Wilkes Stockingdale, völlig entfesselt in meiner ganzen kläglichen Herrlichkeit.
Brea verschränkt die Arme. »Das ist nicht dein Ernst, oder?« Meine Tränen versiegen mit einem Schniefen. »Was?«
»Du weinst Seth nach, weil er mit einem Rotschopf essen geht? Er ist ein ewiger Single, Ashley. Wie oft hast du mir das gesagt, wenn ich dir gesagt habe, dass er an dir interessiert ist?«
Sie zeigt kein bisschen Mitleid, und sofort verwandelt sich mein Schmerz in Wut. »Hey, ich war bei dir, als du all die Jahre in der Highschool dem wie-hieß-er-doch-gleich nachgeweint hast. Als er Kohli gefragt hat, ob sie mit ihm zum Abschlussball geht ... habe ich da nicht mit dir die ganze Nacht Eis, Pralinen und Cola in mich hineingestopft? Du bist mir was schuldig. Von deinem Kummer damals habe ich jetzt wahrscheinlich sechs Pfund mehr auf den Hüften.«
»Das war etwas anderes«, sagt Brea und lässt sich auf die Couch fallen, unmittelbar gefolgt von zwei Hunden, die auf ihren Schoß springen.
»Was ist daran anders? Bist du überhaupt jemals mit Kyle Lupinchec ausgegangen?«
Brea zuckt ein bisschen zusammen. »Nein, aber ...«
»Hat Kyle dein Auto in seine Garage gestellt? Und sich darum gekümmert, dass deine ganzen Sachen irgendwo gelagert werden, damit du dir keine Sorgen machen brauchst?«
»Das würde Seth für jeden anderen genauso tun.«
»Ich gehe ins Hotel«, verkünde ich. »Und ich werde bei der Telefonseelsorge anrufen, damit ich mit jemandem sprechen kann, den das interessiert.«
»Ash, komm schon.«
»Nein.« Um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, stemme ich die Fäuste in die Hüften. »Wie kann es sein, dass du im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen darfst, aber wenn ich mal einen Durchhänger habe, soll ich einfach so darüber hinwegkommen?«
»Weil du Ashley bist. Die Kluge. Die Starke. Diejenige, die sich jede Mutter für ihren Sohn zur Frau wünscht. Ich bin die mit den schwachen Genen, ohne Hirn, schon vergessen? Und jetzt kann ich
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