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Liebesdienst

Liebesdienst

Titel: Liebesdienst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Howard Jacobson
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im Geschäft und schlenderte dann gemächlich nach Hause. Es war eine mondhelle Nacht, der Himmel wolkenfrei. Wenn man jung ist, stellt man sich in solchen Nächten vor, das eigene Leben wäre unermesslich. Auch ich stellte mir wieder vor, mein Leben wäre unermesslich, reich, unendlich. Doch reich, woran, das hätte ich nicht sagen können.
    Da unser Haus wehrhaft an der Ecke eines Platzes, am Ende einer Häuserzeile, steht, hat man aus allen Vorderfenstern einen strategisch günstigen Blick; umgekehrt genießt man schon von Weitem, lange bevor man die Tür erreicht, strategisch günstige Blicke auf das Haus. Ich näherte mich ihm von der gegenüberliegenden Ecke des Platzes mit der Beklommenheit eines Reisenden, der nach Jahren im Ausland nach Hause zurückkehrt, unsicher, was er vorfinden wird, aber in der Hoffnung, aus der Anzahl der erleuchteten Fenster auf das schließen zu können, was innen vor sich geht und wie der Empfang ausfallen wird. Eine unsinnige Überlegung. Sie hätten nicht gleich das ganze Haus verdunkelt, wenn sie ihr Tun verdunkeln wollten; genauso wenig hätten sie jede Lampe eingeschaltet, um mir zu signalisieren, dass ich beruhigt heimkehren könne. Aber ging es hier überhaupt um Sinn oder Unsinn? Ich wollte einen Beweis, dass etwas stattgefunden hatte, und dann wiederum wollte ich ihn nicht. Ich wollte mit eigenen Augen sehen und wusste zugleich nicht, ob ich das Gesehene verkraften würde. Unsinn? Sinn? Das Wort Sinn war an dem Tag aus meinem Sprachschatz verschwunden, als der kubanische Arzt seine Hände auf Marisas fiebrige Brüste legte und sie für sich beanspruchte.
    Wenn nicht schon vorher, als Victor mich in seinem Haus nach oben geführt hatte, damit ich mir seine kränkelnde Frau ansah.
    Wenn nicht schon vorher, als ich zum ersten Mal einen Roman gelesen hatte.
    Wenn nicht schon in der Nacht, als mich ein Weib geboren hatte.
    Die Vorhänge in dem Zimmer im ersten Stock waren zugezogen, und ich erkannte Schattenrisse dahinter, die sich jedoch in keiner Weise ungebührlich verhielten. Ich weiß nicht, wie lange ich nach oben schaute und darauf wartete, dass sich das Bild änderte; schließlich überquerte ich den Platz und holte meine Schlüssel aus der Tasche. Ich inspizierte sie mit einer Intensität, aus der etwas Nostalgisches sprach. Schlüssel? Besaß ich noch einen Schlüssel zu diesem Haus? Ich probierte an dem Schloss herum, aber rechnete nicht damit, dass es funktionierte. Ehe ich die Tür aufbekam, vernahm ich Gesang. Was immer ich heute Abend erwartet hatte – vieles wollte ich nicht einmal vor mir selbst eingestehen –, Marisa und QQ als Gesangsduett, das hätte ich mir nicht träumen lassen.
    Ich spürte eine Eifersucht, die sich von der, auf die ich mich im Geist vorbereitet hatte, erheblich unterschied. Um besser hören zu können, trat ich ein paar Schritte zurück. »My luv is like a red red rose«, zirpte Quirin. Wenn er gedacht hatte, Marisas Herz auf diese Weise zu erobern, dann hatte er sich getäuscht. Wie oft hatte Marisa mir in den Pausen von Opern oder Liederabenden gesagt, sie könne Tenöre nicht leiden, besonders keine, die im Falsett unsicher waren. Zugegeben, das war Marisa in nüchternem Zustand, doch auch als sie jetzt an der Reihe war, hörte sie sich keineswegs betrunken an. Wie alle Frauen ihrer sozialen Herkunft und mit ihrer Bildung verfügte sie über ein großes Repertoire gefühlvoller schottischer und irischer Balladen von der Barbara-Allen-Sorte, die sie – nach dem Motto: Armes Mädchen, von den Inseln seiner Kindheit vertrieben – mit herzzerreißendem Tremolo in der Stimme und verklärtem Ausdruck in den Augen vorzutragen verstand. Daran durfte sich Quirin gerne beteiligen. Erst als sie Didos Klage anstimmte, nahm mich das mit. Als Marisa für mich zum ersten Mal die Dido gab, hatte ich weinen müssen. »When I am laid, am laid in earth, May my wrongs create / No trouble, no trouble in thy breast.« Allein das Bild: eine Frau, die in die Erde gebettet wird. Gegen solche Worte war ich wehrlos, ganz egal, wer sie mir vorsang. Aber wenn sie aus Marisas Kehle strömten, berührten sie Gefühle in mir, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Seitdem hatte ich häufig abends danach verlangt, und Marisa war darauf eingegangen, hatte beim Anblick meiner Tränen künstlerische

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