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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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zu nehmen.
    Schließlich ließ er sich überreden, dem zum Tode verurteilten Hirsch ein Zuhause zu geben, legte ihn in den Kofferraum auf die Geräte, bevor er zum letzten Mal davonfuhr. Bill war Gloria weder besonders sympathisch noch unsympathisch gewesen, jetzt tat es ihr jedoch erstaunlich leid, dass sie ihn nie wiedersehen würde. Obwohl sie kaum miteinander gesprochen hatten, war der Mittwoch »Bills Tag« gewesen. Montag war der »Hospiztag«, an dem Gloria ein lächerlich munteres Lächeln aufsetzte und einen Teewagen durch das örtliche Hospiz schob – gutes Porzellan, hausgemachte Kekse –, alles hübsch arrangiert, weil sie starben und es wussten.
    Freitag war »Beryls Tag«. Wie es schien, würde Beryl ihren Sohn überleben. Sie war in einem Pflegeheim ein paar Straßen weiter untergebracht, und Gloria besuchte sie jeden Freitagnachmittag, obwohl Beryl keine Ahnung hatte, wer Gloria war, da auch ihr Gehirn weich wie ein Schwamm war. Gloria spürte, wie ihr Gehirn härter, weniger freundlich, zu einer Koralle wurde. Sie hatten im Urlaub auf den Malediven »Gehirnkorallen« gesehen, als sie furchtsam schnorchelnd einen Ausflug in die Unterwasserwelt machte. Sie hatte einen alten marineblauen Badeanzug getragen, mit dem sie auch im Warriston Baths schwamm, und war sich durchaus bewusst gewesen, dass ihr Körper von der Schulter bis zur Hüfte die durchhängende, bauchige Form einer Eidechse angenommen hatte. Alle anderen Frauen an dem heißen weißen Strand schienen schlank und gebräunt zu sein und winzige teure Bikinis zu tragen.
    Im Januar machten sie immer in den Tropen Urlaub – Seychellen, Mauritius, Thailand –, stiegen in den teuersten Hotels ab und ließen sich von morgens bis abends bedienen. Graham war gern ein reicher Mann, er mochte es, wenn die Leuten sahen, dass er ein reicher Mann war. Wenn er sich erholte, wenn er am Leben blieb, Gott behüte, würde er es ertragen, ein armer Mann zu sein? Wahrscheinlich nicht. Der Tod war also eine gute Sache für ihn.
    In ihrem Hotel auf den Malediven wohnten viele Russen. Die Frauen waren schlank und blond und kümmerten sich um die Kinder, während die Männer, dick und behaart, Gloria an Walrösser erinnerten. Sie lagen den ganzen Tag mit ihrem Goldschmuck, eingeölt und in zu engen Badehosen, in der Sonne. »Gangster«, sagte Graham sachlich zu Gloria. Gloria fragte sich, an wen die russischen Männer sie noch erinnerten, bis ihr klar wurde, dass es Graham war. Sie waren grahamesker als Graham, und das wollte was heißen.
    Auf den Malediven hatte sie zum letzten Mal mit Graham geschlafen, auf der stramm gezogenen weißen Tagesdecke des Betts unter einer Decke aus tropischem Hartholz in der Spiralform eines Schneckenhauses. Es war ein linkischer und etwas zänkischer Akt gewesen.
    Gloria fragte sich, ob jemand
sie
besuchen würde, wenn sie in einem Pflegeheim läge. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Emily regelmäßig vorbeikäme mit frischer Unterwäsche, Handcreme und einer Hyazinthe im Topf. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Emily Woche für Woche bei ihr säße, ihr Haar kämmte, die Hände massierte und eine einseitige, bedeutungslose Unterhaltung aufrechterhielte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Ewan sie auch nur einmal besuchte.
    Das Telefon klingelte. Gloria ging in die Halle und starrte es an. Es entwickelte ein Eigenleben – irritierend und unversöhnlich, ähnlich wie die Stimme, die jetzt »Mutter!« auf den Anrufbeantworter schrie. Die
Evening News
steckte wie eine Zunge im Briefschlitz, und Gloria zog sie heraus und überflog sie, während Emily mit ihrem eintönigen, zweisilbigen Singsang fortfuhr – sie hatte es schon als Kind getan, ein vielmals wiederholtes Mantra,
Mummy-mummy-mummy-mummy,
aber wenn Gloria sie gefragt hatte, was sie wollte, hatte sie die Achseln gezuckt, sie ausdruckslos angesehen und »nichts« gesagt.
    »Mutter! Mutter! Mutter! Ich weiß, dass du da bist, geh ans Telefon. Geh ans Telefon, oder ich rufe die Polizei. Mutter, Mutter, Mutter, Mutter.«
     
    Das letzte Mal war die ganze Familie an Weihnachten zusammen gewesen. Ewan arbeitete für eine Umweltorganisation und war von Patagonien nach Hause geflogen. Dass er sich für die Umwelt einsetzte, bedeutete nicht, dass Ewan ein sonderlich angenehmer Zeitgenosse war. Er benahm sich sehr selbstgefällig, weil er keinen Teil von Grahams Geschäftsimperium wollte, das für ihn selbstverständlich eine kleine Rolle in der »globalen

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