Liebesdienste / Roman
abgestellt, sich um Martin zu kümmern. Martin saß mit ihr in einem Wagen vor dem Leichenschauhaus der Polizei und wartete, während jemand im Revier über Funk ein Zimmer für ihn suchte. Er durfte nicht im Chaos der Nachwirkungen des Blutbades in seinem »Frischer Tatort«-Haus schlafen und hätte es auch nicht gewollt, wenn er gedurft hätte. »Sie haben keine Freunde, bei denen Sie übernachten können?«, fragte die Polizistin. Nein, hatte er nicht. Sie warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Da war natürlich sein Bruder in Borders, aber dessen Haushalt war nicht wirklich eine Zuflucht, und Martin bezweifelte, dass er willkommen gewesen wäre.
Clare (»Wachtmeisterin Clare Deponio«) hätte eine der Polizistinnen sein können, die am Vortag Paul Bradley zu Hilfe gekommen waren, aber in Uniform sahen sie alle gleich aus. Der Streifenwagen stand fast haargenau an der Stelle, an der gestern der Honda und der Peugeot zusammengestoßen waren. Wer hätte gedacht, dass dieser Vorfall in völliger Bedeutungslosigkeit versinken würde?
»Das Festival«, sagte Clare und wandte sich vom Funkgerät ab. »Offenbar gibt es nirgendwo ein freies Hotelzimmer.«
Erster Hauptkommissar Campbell hatte Martin Colin Sutherland übergeben, der einen unerheblich niedrigeren Rang einnahm (Hauptkommissar). Er fuhr mit (»begleitete«) Martin von seinem Haus zu einem Revier, wo Martin Fingerabdrücke abgenommen wurden – es war genau wie bei der Tour des Schriftstellervereins. Sutherland sagte, es wäre zu »Vergleichszwecken«, aber dann hörte es auf, so zu sein wie die Tour des Schriftstellervereins, denn sie gaben ihm einen weißen Overall aus Papier, nahmen ihm seine gesamte Kleidung weg, brachten ihn in ein Verhörzimmer und befragten ihn lange Zeit zu seiner Beziehung zu Richard Moat und seinem Aufenthaltsort zum Zeitpunkt von Richards Tod. Martin kam sich vor wie ein Sträfling. Man brachte ihm Tee und trockene Kekse – Teebeuteltee, um seinen veränderten Status kundzutun. Waffeln mit rosa Füllung und Bourbon-Schokoladenkekse für die unschuldigen Mitglieder des Schriftstellervereins, schlichter Teebeuteltee für die Leute, die unter Drogen eine Nacht in zwielichtigen Hotelzimmern mit einem anderen Mann verbrachten.
(Sie und Mr. Bradley haben also zusammen geschlafen? Im selben Bett?)
Die Pistole hatte er immer noch nicht erwähnt. Hauptkommissar Sutherland tat gern so, als wäre er verblüfft. »Ich habe Probleme, das auf die Reihe zu kriegen, Mr. Canning – Sie haben das Leben eines Fremden gerettet, Sie haben die Nacht mit ihm verbracht, aber er ist vor Tagesanbruch verschwunden. In der Zwischenzeit wurde in Ihrem Haus Ihr Freund zu Tode geprügelt.«
Paul Bradley hatte eine Adresse in London, Martin erinnerte sich daran, wie die Krankenschwester in der Notaufnahme sie aufschrieb, dieselbe Adresse, die Bradley vor seinen Augen ins Hotelregister eingetragen hatte.
»Die Londoner Polizei überprüft das«, sagte Sutherland. Sutherland erinnerte Martin an jemanden, aber es fiel ihm nicht ein, an wen. Er hatte die beunruhigende Eigenart, im falschen Moment zu lächeln, so dass Martin, der lächelte, wenn er angelächelt wurde, mit einem dämlichen Grinsen auf Feststellungen wie die folgende reagierte:
Mr. Moats Schädel wurde mit einem stumpfen Gegenstand eingeschlagen.
Eine Kriminalkommissarin saß neben Sutherland. Sie schwieg die ganze Zeit, als wäre sie stumm. An einer Wand befand sich ein Spiegel, und Martin fragte sich, ob er durchsichtig war. Warum sonst sollte sich ein Spiegel in einem Verhörraum befinden? Beobachtete jemand in der Welt hinterm Spiegel, wie er den Sträflingskeks in den Tee tauchte?
»Er existiert«, sagte Martin.
»Niemand bezweifelt seine
Existenz,
Mr. Canning«, erwiderte Sutherland wie ein pedantischer Philosoph.
Martin vermisste Campbells freundliches »Martin«, als wären sie alte Bekannte.
»Er war an einem Verkehrsunfall mit Gewaltanwendung beteiligt«, fuhr Sutherland fort. Er lächelte und hielt vorsätzlich inne, bevor er hinzufügte: »Derselbe, von dem Sie behaupten, Sie wären auch daran beteiligt gewesen.«
»Das war ich«, sagte Martin. »Ich habe eine Aussage gemacht.«
»Der Zwischenfall wurde gestern kurz nach Mittag aufgenommen, das Opfer – Ihr Paul Bradley – wurde im Royal Infirmary behandelt wegen einer leichten Kopfverletzung, er hat sich im Register des Four Clans eingetragen. Hunderte von Menschen haben ihn gestern gesehen, seine Existenz steht
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