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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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gewesen waren, bedruckt mit »Matroschka«. Er tastete nach der erdnussgroßen Babypuppe in seiner Jackentasche. Die Schalen einer Zwiebel. Chinesische Schachteln, russische Puppen. Geheimnisse in Geheimnissen. Puppen in Puppen.
    Der Zirkusdirektor (den Julia »Zirkuswallah« genannt hatte) sah aus wie Zirkusdirektoren überall auf der Welt, schwarzer Zylinder, roter Frack, Peitsche – es schien, als wollte er nicht eine bunte Ladung Kitsch orchestrieren, sondern eine Fuchsjagd. Er war viel zu groß, um für Julia attraktiv zu sein. Der Zirkus, so stand es im Programm, teilte sich das Zelt mit den »LadyBoys von Bangkok«. Jackson war erleichtert, dass nicht ein LadyBoy Julia im Vorbeigehen eine Freikarte für seine/ihre Show in die Hand gedrückt hatte.
    »Ermordet«,
hatte Julia gesagt. Gestern Abend hatte er Richard Moat noch auf der Bühne gesehen, jetzt lag der arme Kerl irgendwo in einem Kühlschrank. Jackson hätte länger applaudiert, hätte er gewusst, dass es Moats allerletzter Auftritt sein würde. War er ermordet worden, weil er nicht komisch war? Leute töteten aus geringerem Anlass. Die Gründe, warum Leute andere Leute umbrachten, waren Jackson oft trivial erschienen, als er noch bei der Polizei war, aber vermutlich sah es anders aus, wenn man selbst betroffen war.
    Einmal war er für den Fall eines achtzigjährigen Mannes zuständig gewesen, der seiner Frau mit einem Kartoffelstampfer den Kopf eingeschlagen hatte, weil sie am Morgen seinen Haferbrei verbrannt hatte. Und als Jackson zu dem alten Herrn sagte, das sei kein Grund, der vor Gericht Bestand haben würde, erwiderte er: »Aber sie verbrennt ihn jeden Morgen seit achtundfünfzig Jahren.« (»Sie hätten früher mit ihr darüber sprechen können«, wandte eine Polizistin trocken ein, doch so funktionierte eine Ehe nicht, das wusste Jackson.) Wenn man die Geschichte erzählte, wirkte sie nahezu komisch, aber es war nicht komisch gewesen, das Hirn der alten Frau auf dem abgetretenen Linoleum zu sehen oder dabei zuzuschauen, wie der alte Mann, ganz wässrige Augen und zitternde Hände, auf den Rücksitz eines Streifenwagens verfrachtet wurde.
    Um ehrlich zu sein, Jackson war überrascht, dass sich nicht mehr Menschen gegenseitig umbrachten. Julia log ihn definitiv an.
    Ein Gesicht im Meer der Gesichter auf der gegenüberliegenden Seite erregte seine Aufmerksamkeit. Es war kein Klischee, es war wirklich ein Meer aus Gesichtern, es war ihm nahezu unmöglich, ein einzelnes ins Auge zu fassen. Er hatte geglaubt, dass Kurzsichtigkeit im Alter besser würde und Weitsichtigkeit sich verschlechtern (oder war es umgekehrt?), aber bei ihm schien sich beides zu verschlimmern. Doch wenn er sich konzentrierte, nein, eigentlich war es besser, wenn er sich nicht konzentrierte, dann sah er das Mädchen. Sie hatte den Kopf gehoben, sah den Artisten am Trapez zu, ihr Ausdruck heiter, glücklich. Ihre Augen waren nur halb geöffnet, als würde sie an etwas anderes denken. Sie sah dem toten Mädchen so ähnlich, es konnte nicht sein. Sein Mädchen, das mit angezogenen Beinen auf den Felsen lag, eine träumende Meerjungfrau, deren Schlaf er gestört hatte. Er kniff die Augen zusammen, versuchte die Züge des Mädchens im Publikum deutlicher zu erkennen, aber das Bild wurde unscharf, und sie verschwand, verschwamm im Meer der Gesichter.
    Er schlief ein, während Akrobaten eine menschliche Pyramide konstruierten, und als er erwachte, war er desorientiert. Das Dach des Zeltes war dunkelblau, übersät mit silbernen Sternen, und es erinnerte ihn an etwas, aber ihm fiel nicht ein, an was, und dann wusste er, dass es das Dach – das Himmelsgewölbe – in einer Seitenkapelle der katholischen Kirche war, in die seine Mutter sie als kleine Kinder jeden Sonntag dreimal schleppte, bis ihr die Kraft ausging und sie sie dem Teufel überließ.
    Vielleicht log Julia nicht direkt, sondern sagte nur nicht die Wahrheit.
     
    Als Jackson zusammen mit allen anderen das Zelt verließ, wurde er von einem perlenfarbenen Halbdunkel begrüßt. Die Dämmerung. Hier oben war es so viel heller, ein flüchtiges nordisches Licht, das seine Seele ansprach. Er setzte sich auf eine Bank und schaltete das Handy ein. Eine SMS von Julia:
In der Trav Bar, such uns
(nicht einmal ein »J« oder ein einziges »x«, ganz zu schweigen von »love« oder Interpunktion). Es klang mehr wie eine Herausforderung zur Schatzsuche als wie eine Einladung zu einem Drink. Er vermutete, »Trav« bedeutete Traverse,

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