Liebesdienste / Roman
müssen, fasste ihn jemand oder etwas (er hoffte, es war jemand) am Arm und zerrte ihn in die Dunkelheit.
Es war nicht vollkommen dunkel, er konnte gerade noch erkennen, dass er sich irgendwo im Hinterland des Zirkuszelts befand, dort, wo die Artisten auf ihren Auftritt warteten. Vor ihm führte ein Tunnel in die Arena, und er fühlte sich einen Augenblick lang ans Kolosseum erinnert. Letztes Jahr war er mit Marlee in Rom gewesen. Sie hatten viel Eis und Pizza gegessen. In jüngster Zeit stammten seine Erinnerungen alle aus dem einen oder anderen Urlaub.
Es war zudem hell genug, dass er das Messer in der Nähe seines Halses aufblitzen sah. Sein erster Gedanke war, dass es Terence Smith mit seiner Cluedo-Waffenkammer sein musste, aber er konnte einfach nicht so schnell hierhergekommen sein. Jackson wandte den Kopf und spürte, wie das Messer die Haut neben einer Arterie ritzte. Die Doppelgängerin des toten Mädchens. Sie lächelte. Sie blickte so wild drein, dass er nicht wagte, ebenfalls zu lächeln. Es fehlten nur noch ein paar Clowns, und der Albtraum wäre komplett.
»Mund halten, okay?«, sagte sie. Es klang ausländisch. Er wusste nicht, warum das eine Überraschung sein sollte, alle, denen er derzeit begegnete, schienen Ausländer zu sein.
»Okay«, sagte er. Sie entfernte das Messer ein paar Zentimeter von seinem Hals. Sie stand so nahe bei ihm, dass er den Zigarettenrauch riechen konnte, der sich mit ihrem Parfum vermischt hatte. Daraufhin wollte er eine Zigarette, er wollte Sex. Eine erstaunliche Vorstellung angesichts der Umstände. Er fragte sich, ob die Ohrringe Zeichen eines Kults waren, irgendetwas wiedergeboren Christliches. Sie sah nicht aus wie die Christinnen, die er kannte, aber man wusste nie. Hatte sie ihn vor der Polizei gerettet, um ihn umzubringen? Das ergab keinen Sinn, aber nichts ergab einen Sinn.
»Sie sehen aus wie jemand, der tot ist«, flüsterte er. Ja, er hatte entschieden, dass es keine gute Gesprächseröffnung war, trotzdem sagte er es.
»Ich weiß«, sagte sie. Das war eine unerwartete Antwort. Sie senkte das Messer ein Stückchen.
»Ihre Schwester?«, tippte er.
»Nein, Freundin«, sagte sie und zuckte die Achseln. »Wir sehen uns ähnlich, das ist alles.«
»Honda-Mann – Terence Smith –, warum wollte er Sie umbringen?«
Sie kniff die grünen Augen zusammen und lachte. »Der Trottel?«, fragte sie verächtlich. »Er ist Idiot.«
»Ja, ich weiß, er ist Idiot, aber er hat trotzdem versucht, Sie umzubringen.«
Sie machte eine Geste, die vermutlich obszön war dort, wo sie herkam. Russland, so wie sie sich anhörte.
»Da«,
stimmte sie ihm zu. Sie wirkte beeindruckend unaufgeregt angesichts der Tatsache, das jemand gerade versucht hatte, sie zu ermorden. Er fragte sich, ob ihr das öfter passierte.
»Ich habe Sie im Zirkus gesehen«, sagte er.
»Zirkus ist jetzt illegal?« Sie war nicht gut in Small Talk.
»Wie heißen Sie?«, versuchte er es. »Ich heiße Jackson Brodie.«
Ich war früher Polizist.
»Ich habe keinen Namen, ich existiere nicht«, zischte sie, »und Sie auch nicht mehr lange, wenn Sie nicht Mund halten.« Richtig schlecht in Small Talk.
»Wir stehen auf derselben Seite«, sagte Jackson. Es schien unwahrscheinlich, aber war nicht die Feindin deines Feindes deine Freundin?
»Ich bin nicht auf
Seite
. Hören Sie –« Ein kleiner Stich mit dem Messer in seine Rippen, damit er aufmerksam zuhörte.
»Das tut weh.«
»Na und?«
Er wusste nicht mehr, warum er sich Sorgen um sie gemacht hatte. Noch ein kleiner Messerstich in die Rippen.
»Okay, okay, ich höre zu«, sagte er.
»Stecken Sie Nase nicht rein, ich mache das schon.«
»Sie machen was?«
Sie bohrte ihm die Messerspitze tiefer zwischen die Rippen, seine angeschlagenen, schmerzenden Rippen, und sagte so entschlossen, dass Widerspruch nicht angebracht schien: »Wir gehen jetzt.« Sie ging mit ihm durch die Zirkusarena, die unheimlich dunkel und bar jeder Illusion war und ließ ihn auf der anderen Seite hinter den Rängen der leeren Sitze unter der Leinwand hinauskriechen. Draußen auf der Wiese in der kühlen Nachtluft war nichts zu sehen von Terence Smith oder der Polizei.
»Ich rette Ihren Arsch«, sagte sie und lachte, anscheinend erfreut, dass sie die englische Metapher meisterte. »Jetzt Sie verschwinden.« Sie begann sich zu entfernen. Dass sie barfuß war, schien sie nicht weiter zu stören. Jackson folgte ihr, humpelte hinter ihr her wie ein lahmer Hund.
»Verpissen Sie«,
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