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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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und das war gut und schlecht, gut, weil die Bar sich in der Nähe befand und er sicher war, dass er sie finden würde, schlecht, weil er am ersten Abend mit Julia und den anderen Schauspielern dort gewesen war, ein verrauchter unterirdischer Ort voller Wichtigtuer aus London. Vielleicht konnte er sie überreden, mit ihm in eins der vielen italienischen Restaurants in der Nähe zu gehen. Er erinnerte sich vage, dass er eigentlich für sie hatte kochen wollen. Die Vorhaben von Mäusen und Menschen gehen meistens schief. Sie hatten das Buch in der Schule gelesen, das heißt, seine Mitschüler hatten es gelesen. Jackson hatte aus dem Fenster geschaut oder geschwänzt. Er erinnerte sich an das kleine Relief im Scottish War Memorial.
Die Freunde der Bergarbeiter.
Er fühlte sich merkwürdig allein.
    Es waren noch viele Leute unterwegs, aber es wurde jetzt rasch dunkel, und ein Stück abseits der Straßenlampen an den Wegen bildeten sich dunkle Teiche im Park, die Gelegenheit zu allen möglichen Grenzüberschreitungen boten. Plötzlich war es noch dunkler, und Jackson sah, dass die Lichter auf dem Zirkuszelt ausgeschaltet worden waren. Etwas in ihm schien zu fallen, ein bleiernes Gewicht, eine Erinnerung an den Nachhauseweg vom Zirkus von vor über vierzig Jahren, als er an der Hand seiner Mutter – seine Mutter war jetzt nur noch der Schatten einer Erinnerung – einen Hügel hinaufging, die Stadt war auf Hügeln erbaut, zurückblickte und vor seinen Augen das hell erleuchtete Zirkuszelt plötzlich in der Dunkelheit verschwand. Das Erlebnis hatte ihn auf eine Weise verstört, für die er als kleiner Junge keine Worte hatte. Jetzt wusste er, dass es Melancholie gewesen war. Melancholisch, cholerisch, phlegmatisch – so hatte ihn gestern Louise Monroe genannt,
Sie wirken bemerkenswert phlegmatisch, Mr. Brodie
. Welches war die vierte Gemütsart? Sanguinisch. Aber die Melancholie entsprach seinem Temperament. Ein elender Kerl, mit anderen Worten.
    Überall in Europa gehen die Lichter aus. Gott, was für ein erbärmliches Zitat. Er hatte in letzter Zeit dank Amazon viele militärgeschichtliche Bücher gelesen. Er dachte an das Gedicht von Binyon.
Wenn die Sonne untergeht.
Der Rest war Schund. Vicomte Grey hatte tatsächlich gesehen, wie die Straßenlampen
entzündet
wurden, nicht ausgemacht, aber manche Leute meinten natürlich, dass es ein apokryphes Zitat war. Herrgott, man schaue ihn nur an, ein trauriger Verlierer in mittleren Jahren, der in der Dämmerung auf einer Parkbank saß und über einen längst vergangenen Krieg nachdachte, an dem er nicht teilgenommen hatte. Jackson dachte nur selten an die Kriege, an denen er teilgenommen hatte. Er brauchte jetzt ein Bier. Seit wann betrachtete er sich als Verlierer?
Wir werden sie nicht wieder angehen sehen.
Es wäre nicht Julias Schuld, wenn sie sich mit ihm langweilte.
    Und dann war das Selbstmitleid auf der Stelle vergessen, denn da war sie. Sie war es, sein totes Mädchen. Er hatte sie sich im Zirkuszelt nicht eingebildet, sie war dort gewesen, und jetzt war sie
hier
, ging zwischen den Schatten der Bäume durch den Park und kam auf ihn zu.
    Sie trug hochhackige Schuhe und einen kurzen sommerlichen Rock, so dass er nicht anders konnte, als ihre perfekten Beine zu bewundern. Er stand abrupt auf und ging auf sie zu, fragte sich, was er zu ihr sagen würde –
He, Sie sehen aus wie ein totes Mädchen, das ich kenne.
Als Gesprächseröffnung ließ das durchaus zu wünschen übrig. Er wusste, dass sie nicht wirklich das tote Mädchen war, außer die Toten würden wiederauferstehen, und das taten sie nicht, davon war er überzeugt. Er konnte sich das Chaos nicht vorstellen, das herrschen würde, wenn sie es täten.
    Und dann – und Jacksons Ansicht nach wurde es allmählich langweilig –, wer schlüpfte da aus dem Schatten, wenn nicht sein alter Feind Honda-Mann. Terence Smith schlich sich auf Zehenspitzen wie eine Comicfigur an das nicht tote Mädchen an. Der Mann war ein Moloch, und Moloche sollten nicht versuchen, auf Zehenspitzen zu gehen. Das Mädchen mochte nicht tot sein, doch es sah aus, als wollte Terence Smith sie töten, nicht mit seinem erprobten Baseballschläger, sondern mit einem Stück Nylonseil. Hund, Baseballschläger, Seil, der Mann war ein wandelndes Waffenarsenal.
    »He!«, schrie Jackson, um das Mädchen auf sich aufmerksam zu machen. »Hinter Ihnen!« Rief er es wirklich? Aber es war keine Theatervorstellung – Terence Smith hatte ihr das Seil

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