Liebesdienste / Roman
vermutlich.
»Rabauke« war ein gutes Wort, sie konnte es anwenden, wenn Archie das nächste Mal in Schwierigkeiten geriet.
Archie ist ein kleiner Rabauke, aber er ist okay.
Immer öfter quälte sie die unangenehme Vorstellung, in einem Gerichtssaal zu sitzen, Archie auf der Anklagebank, und dabei zusehen zu müssen, wie sein Leben den Bach runterging und ihr Leben mit dazu.
Sie haben ihn in eine Krippe gegeben, als er drei Monate alt war, Ms Monroe? Ihre Karriere rangierte immer an erster Stelle, nicht wahr? Sie wissen nicht, wer sein Vater ist?
Natürlich wusste sie es, sie wollte es nur nicht sagen. Harmlos, meine Güte, dachte sie. Er war ein kleiner Dreckskerl, das war er.
Sie klopfte an die Tür von Archies Zimmer und trat rasch ein, ohne auf Antwort zu warten. Man sollte Verdächtige immer in einem unachtsamen Augenblick erwischen. Archie und Hamish (verdammt, sie hatte Hamish ganz vergessen) kauerten vor Archies Computer. Sie hörte Hamishs Sotto-voce-Warnung. »Sie kommt, Arch.« Archie schaltete sofort den Bildschirm aus. Pornos wahrscheinlich. Sie machte die Musik aus. Das sollte sie wirklich nicht tun, er hatte schließlich auch Rechte. Nein, hatte er nicht.
»Okay, Jungs?«, sagte sie. Sie hörte, dass sie wie ein Gesetzesvertreter klang, nicht wie eine Mutter.
»Alles in Ordnung, Louise«, sagte Hamish und bedachte sie mit einem breiten Grinsen. Verdammter kleiner Harry Potter. Archie sagte nichts, starrte sie nur finster an, wartete, dass sie wieder ging. Wenn sie ein Mädchen gehabt hätte, würden sie jetzt ein bisschen plaudern, über Kleider, Jungen, die Schule. Ein Mädchen würde auf dem Bett liegen und ihre Schminksachen sortieren. Ein Mädchen würde Geheimnisse, Hoffnungen, Träume mit ihr teilen, all die Dinge, die Louise nie mit ihrer Mutter getan hatte.
»Ihr habt morgen Schule, ihr solltet schlafen.«
»Sie haben recht, Louise«, sagte Hamish. »Komm, Archie, ab in die Heia.«
Kleines Arschloch, dachte sie, als sie das Zimmer verließ. Sie entfernte sich ein Stück und schlich dann auf Zehenspitzen zurück, um an der Tür zu horchen. Die Musik blieb abgeschaltet, und sie schienen in einem Buch zu lesen, erst eine Stimme, dann die andere. Jedenfalls keine Pornografie, obwohl sie beide kicherten, als wäre es Porno. Hamishs selbstsichere Stimme, männlicher, wenn sie körperlos war, erklärte:
»›Weißt du, ich glaube, es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick sieht, Bertie‹, sagte Nina.›Maud Elphinstone scheint unschuldiger als das sprichwörtliche Lamm, aber meine Wenigkeit glaubt, dass die Dame ihre Unschuld etwas zu häufig beteuert.‹«
Und Archies abstürzende Stimmbruchstimme:
»›Aber, Bertie, ich glaube wirklich, du errötest.‹«
Waren sie schwul? Wie wäre es für sie, wenn ihr Sohn schwul wäre? Eigentlich wäre es eine Erleichterung, sie müsste sich in Zukunft nicht mehr mit der ganzen Machoscheiße rumschlagen. Jemand, mit dem man zum Einkaufen gehen konnte, behaupteten sie immer, die Mütter von schwulen Söhnen. Sie ging nicht gern einkaufen, das könnte also ein Problem werden.
»›Ich glaube fast, du bist für die schöne Maud entflammt, Bertie.‹«
Einen Augenblick lang, als sie sich verabschiedeten, hatte sie gedacht, dass Jackson sie küssen würde. Wie hätte sie reagiert? Sie hätte ihn auch geküsst, mitten auf der Straße, wie ein Teenager.
Louise Monroe ist für Jackson Brodie entflammt.
Weil Louise Monroe offensichtlich eine Idiotin war.
34
G loria verbrachte den Abend im Krankenhaus. Sie studierte Graham sorgfältig und fragte sich, ob er simulierte, ob er beschlossen hatte, all den Problemen, die sich vor ihm auftürmten, aus dem Weg zu gehen, indem er die Welt glauben machte, er sei tot. »Kannst du mich hören, Graham?«, flüsterte sie ihm ins Ohr. Wenn er sie hörte, ließ er es sich nicht anmerken.
Das kolossale Wrack war jetzt so schwach wie ein Kätzchen, so still wie eine Maus. Der gestürzte Ozymandias.
Halb verweht, zerschlagen liegt sein Gesicht im Sand.
Als sie jünger war, hatte sie Shelley sehr gemocht. Sie hatte Graham zu seinem sechzigsten Geburtstag eine wunderschön illustrierte Folio-Society-Ausgabe der gesammelten Gedichte geschenkt, getreu der Maxime, dass man schenken sollte, was man selbst gern geschenkt bekommen würde.
Graham, der nun mal Graham war, hatte das Gedicht natürlich falsch interpretiert und nur die triumphale Hybris von
Ozymandias bin ich, König der Könige: Schaut auf meine Werke, ihr
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