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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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von gestern. Hatte Sutherland nicht gesagt, der Mann sei in Urlaub? Er gab Martin den Schlüssel, blickte dabei kaum von der
Evening News
auf, die vor ihm auf dem billigen Furnier der Rezeption lag. Eine Zigarette hing gefährlich locker in seinem Mundwinkel.
    »Erinnern Sie sich an mich?«, fragte Martin. »Wissen Sie, wer ich bin?«
    Der Nachtportier riss sich von der Zeitung los, drei Zentimeter Asche lösten sich von der Zigarette. Er blickte zu Martin, und als würde er nichts Interessantes sehen, wandte er sich wieder der Zeitung zu. »Ja«, sagte er und blätterte um, »Sie sind der tote Mann, oder?«
    »Ja«, sagte Martin. »Ich bin der tote Mann.«

36
    E in Hahn krähte. Es gab keinen besseren Wecker. Er erinnerte sich, dass es Sonntag war, sein bevorzugter Wochentag, und er streckte im Bett genüsslich alle viere von sich. Er musste nicht aufstehen und zur Arbeit gehen. Denn er schrieb nicht mehr, Gott sei Dank, er fühlte sich seltsam befreit, wenn er jeden Werktagmorgen einen Anzug und eine Krawatte anziehen und nach London fahren konnte, um sich in einem konservativen Büro mit hohen Decken und großen altmodischen Schreibtischen abzuplacken, einem Ort, an dem ihn die Jüngeren und die Sekretärinnen »Mr. Canning« nannten und der Direktor ihm auf den Rücken schlug und sagte: »Wie geht es dieser wunderbaren Frau, die Sie geheiratet haben, alter Freund?« Er wusste nicht, was er den ganzen Tag in dem Büro tat, aber mittags ging er in ein Restaurant, in dem die Kellnerinnen weiße Schürzen mit Spitzenbesatz und kleine Hauben auf dem Kopf trugen und ihm Ochsenschwanzsuppe und Plunder, gefüllt mit Früchten und Eiercreme, brachten. Und nachmittags um Punkt drei Uhr servierte ihm seine Sekretärin (June oder vielleicht Angela), eine fröhliche junge Frau mit einer forschen Kurzschrift und weichen Twinsets, die gewohnte Tasse Tee und einen Teller mit Keksen.
    Der Hahn wusste nicht, dass es Sonntag war. Bald gesellten sich andere Vogelstimmen dazu. Martin konnte aus der Tapisserie des Gezwitschers das freudige Trillern einer Amsel heraushören, die Identität der anderen Vögel war ihm jedoch ein Rätsel. Seine (wunderbare) Frau wüsste es, sie war auf dem Land geboren und aufgewachsen. Ein Bauernmädchen. Ein gesundes, milchgenährtes Bauernmädchen. Er stützte sich auf den Ellbogen und betrachtete das gesunde Bauernmädchengesicht. Wenn sie schlief, war sie noch schöner, aber es war eine Schönheit, die bei Männern respektvolle Bewunderung und nicht Lust hervorrief. Allein die Vorstellung von Lust hätte sie beschmutzt. Sie war über jeden Tadel erhaben. Eine Strähne ihres weichen braunen Haares lag auf ihrem Gesicht. Er schob sie sanft beiseite und küsste ihre köstlichen rubinfarbenen Lippen.
    Er würde ihr das Frühstück ans Bett bringen. Ein richtiges Frühstück, Eier und Speck, Toast. Für das Mittagessen würden sie ein gutes Stück englisches Rindfleisch braten, obwohl Fleisch noch rationiert war, aber der Dorfmetzger war ihr Freund. Alle waren ihre Freunde. (Er fragte sich, warum er in diesem anderen Leben so viel Fleisch aß.)
    Der Verlauf des Vormittags würde dem gewohnten glücklichen Sonntagsmuster folgen. Wenn das Essen fast fertig wäre – die Sauce kochte ein, das Rindfleisch ruhte –, würde er lachen (weil es ihr gemeinsamer kleiner Scherz war), zu ihr sagen: »Ein kleiner Sherry vor dem Essen, Liebling?«, und die Karaffe von Waterford holen, die ihren Eltern gehört hatte. Dann würden sie an ihrem Amontillado nippen, sich in die mit »Erdbeerdieb« gemusterten Sessel setzen und Schuberts
Forellenquintett
hören.
    Er hörte das Wasser im Bad laufen und Getrappel im Flur und die Treppe herunter. Peter/David machte Flugzeuggeräusche und kämpfte allein gegen die deutsche Luftwaffe. Martin hörte ihn sagen: »Das ist für dich, du dreckiger Nazi«, bevor der Junge den Lärm von Maschinengewehrsalven nachahmte. Er war ein braver Junge, er würde werden wie sein Vater, der Kampfpilot, nicht wie Martin. Gestern Abend, nachdem Peter/David sie beide geküsst, ihnen Gute Nacht gewünscht hatte und ins Bett gegangen war, hatten sie in ihrem gemütlichen Wohnzimmer (knisterndes Feuer etc.) gesessen, Martin toastete Hefeküchlein, seine Frau strickte einen weiteren Fair-Isle-Pullover, als sie im Stricken innehielt und lächelnd sagte: »Ich glaube, er verdient es, ein Brüderchen oder ein Schwesterchen zu bekommen, meinst du nicht?« Ein Augenblick wie ein Schatz in einem Leben

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