Liebesdienste / Roman
konnte.
»Ja, ich habe ihn vor dir gegrüßt«, sagte Jackson. »Und ich habe mir das neue Parlamentsgebäude angeschaut.«
»Wie ist es?«
»Ich weiß nicht. Neu. Seltsam.«
Er sah, dass sie nicht wirklich zuhörte. »Soll ich dableiben?«, fragte er.
Sie blickte erschrocken drein und sagte rasch: »Ich möchte nicht, dass du das Stück vor der Pressevorstellung siehst, es hat noch ein paar Ecken und Kanten.«
Wenn sie arbeitete, war Julia immer euphorisch, und Jackson wusste, dass »Ecken und Kanten« mit »verdammt grauenhaft« übersetzt werden musste. Aber darüber sprachen sie nicht. Er bemerkte Falten um ihre Augen, die zwei Jahre zuvor noch nicht da gewesen waren. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um sich küssen zu lassen, und sagte: »Du hast meine Erlaubnis zum Herumstreunen. Geh und amüsier dich.«
Jackson küsste sie keusch auf die Stirn. Am Abend zuvor, nach der Kneipe, hatte Jackson mit heroischem Sex gerechnet, kaum dass sie durch die Tür der Mietwohnung in Marchmont getreten waren, die der Veranstalter für sie gefunden hatte. Eine neue Unterkunft machte Julia normalerweise forsch, was Sex anbelangte, aber stattdessen sagte sie: »Ich
sterbe,
Liebster, wenn ich nicht
augenblicklich schlafe.«
Es sah Julia gar nicht ähnlich, keinen Sex zu wollen, Julia wollte immer Sex.
Jackson vermutete, dass die Wohnung während des Semesters an Studenten vermietet war – Tesafilmstreifen an der Wand und eine Toilette, die Jackson mit zwei Flaschen WC -Reiniger putzte, bevor sie annähernd sauber schien. Julia putzte keine Toiletten, Julia machte eigentlich überhaupt keine Hausarbeit oder zumindest nicht so, dass man es bemerkte. »Das Leben ist zu kurz«, pflegte sie zu sagen. Es gab Tage, an denen Jackson dachte, dass das Leben zu lang war. Er hatte angeboten, für etwas Hübscheres, etwas Teureres, sogar für ein Hotel zu zahlen, wenn Julia es wollte, aber sie hatte abgelehnt.
Alle anderen leben in ärmlichen Verhältnissen, und ich soll im Luxus wohnen? Das finde ich nicht richtig, Liebster, du etwa? Solidarität mit der Gruppe und so.
Als er an diesem Morgen die Augen aufschlug, war Julias Seite des Betts so kalt und glatt, als hätte sie nicht die ganze Nacht unruhig neben ihm gelegen. Er wusste, dass sie nicht mehr da war, sie war nicht im Bad oder atmete oder las, nichts davon hätte sie lautlos getan. Sein Herz zog sich betrübt ein wenig zusammen. Er versuchte sich an das letzte Mal zu erinnern, als Julia vor ihm aufgewacht war. Er glaubte nicht, dass es schon einmal vorgekommen war. Jackson mochte keine Veränderungen, der Gedanke, dass alles immer gleich blieb, gefiel ihm. Veränderungen waren tückisch, sie schlichen sich an, als würden sie das Statuenspiel spielen. Eigentlich schienen Julia und er sich nicht zu verändern, aber wenn er zwei Jahre zurückdachte, dann waren sie heute andere Menschen. Damals hatten sie sich aneinandergeklammert, dankbare, zügellose Überlebende von Untergang und Zerstörung, jetzt waren sie nur noch Treibgut, das auf den Nachwirkungen trieb. Oder hieß es Strandgut? Er wusste nie, was der Unterschied war.
»Warte, ich habe noch was für dich«, sagte Julia, kramte in ihrer Tasche und holte schließlich einen Busfahrplan heraus.
»Ein Busfahrplan?«, fragte er, als er ihn entgegennahm.
»Ja, ein Busfahrplan. Damit du mit dem Bus fahren kannst. Und, hier, meine Tageskarte.«
Jackson hatte nicht die Gewohnheit, mit dem Bus zu fahren. Busse waren, seiner Meinung nach, etwas für Alte, Junge und Arme.
»Ich weiß, was ein Busfahrplan ist«, sagte er und klang ziemlich mürrisch, selbst in seinen eigenen Ohren. »Danke«, fügte er hinzu, »aber ich werde mir wahrscheinlich die Burg anschauen.«
»Und mit einem Sprung rettete er sich das Leben«, hörte Jackson sie sagen, als er ging.
Während Jackson durch das Labyrinth ging, rechnete er nahezu damit, auf Stalaktiten und Stalagmiten zu stoßen (»Stala
k
titen von der Dec
k
e, Stala
g
miten vom
G
rund«, hörte er überraschenderweise die Stimme seines alten Erdkundelehrers im Hinterkopf murmeln). Die Gänge waren in den Felsen gehauen, die Wände waren verschimmelt, die Beleuchtung war dämmrig, eine unterirdische Höhle, die Jackson einen Schauder über den Rücken jagte. Er dachte an seinen Vater, der jeden Abend in die Grube eingefahren war.
Das Gebäude fühlte sich unglaublich krank an. Jackson vermutete, dass er Pestbazillen einatmete. Und wenn es hier brennen sollte, käme
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