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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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erinnerte Jackson an einen Vikar oder Mönch. E. M. – Eustacia Marguerite oder Edward Malcolm? Wie auch immer, E. M. hätte ihre liebe Mühe mit Martin.
    Jackson kam sich ein wenig lächerlich vor, als er im »Signierzelt« (Jackson hatte zuerst »Singzelt« gelesen – eine Vorstellung, die ihn sowohl beunruhigte als auch verwirrte) hinter Martin stand wie ein Geheimagent. Das Literaturfestival fand in Zelten statt und erinnerte ihn vage an ein Feldlager der Armee. Plötzlich hatte er wieder den Geruch des Zirkuszelts von gestern Abend in der Nase, den vertrauten Geruch von Gras unter Leinwand. Das verrückte russische Mädchen, eine Banditenkönigin, ihr Messer an seiner Kehle.
    Martin blickte bei jeder Person nervös auf, die sich ihm näherte, als wartete er auf einen unbekannten Meuchelmörder. Jackson verstand nicht, warum er hier auftrat, wenn er sich solche Sorgen machte. »Ich werde mich nicht verstecken«, hatte Martin gesagt. »Man muss sich den Dingen stellen, vor denen man Angst hat.« Jacksons Erfahrung nach war es oft am besten, man mied die Dinge, vor denen man am meisten Angst hatte. Zurückhaltung war bisweilen der bessere Teil von Heldenmut.
    »Gleichzeitig machen Sie sich Sorgen, dass jemand es auf Sie abgesehen hat? Die Person, die Richard Moats Handy gestohlen hat, die Person, die in Ihr Büro eingebrochen ist?«
    »Nein, die sind nicht hinter mir her«, sagte Martin. »Kosmische Gerechtigkeit hat mich im Visier.«
    »Kosmische Gerechtigkeit?« Bei Martin klang es wie eine Person, wie der Anführer der vier Reiter der Apokalypse.
    »Ich habe ein Verbrechen begangen«, sagte Martin. »Und werde dafür bestraft. Auge um Auge.«
    Jackson versuchte, ihn aufzumuntern. »Jetzt kommen Sie schon, Martin, war es nicht Gandhi, der gesagt hat: ›Auge um Auge, und die ganze Welt wird blind‹?« Oder so etwas Ähnliches. Er hatte den Spruch auf einem T-Shirt gelesen, als er in den achtziger Jahren eine Antiatomwaffen-Demonstration bewachte. Letztes Jahr hatte ihn Julia dazu gebracht, an einer Antikriegsdemonstration teilzunehmen. So sehr hatte sich seine Welt verändert.
    »Tut mir leid«, sagte Martin. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, dass Sie diesen Job übernehmen.«
    Jackson machte es nichts aus, es war ein Job, und er tat etwas, statt nur rumzuhängen (obwohl es sich anfühlte wie Rumhängen). Nahe dran und persönlich war nicht sein Ding, aber er hatte seinerzeit auch als Leibwächter gearbeitet, kannte die Routine.
    »Solange ich aufpasse, wird Ihnen nichts passieren, Martin«, versicherte er ihm. Filmsprache, die Martin glücklich zu machen schien.
    Jackson fragte sich, was für ein »Verbrechen« Martin begangen hatte. An einer Bushaltestelle geparkt? Schundromane geschrieben?
     
    Martin hielt sich gut, signierte höflich und lächelte. Jackson hielt aufmunternd den Daumen nach oben. Dann wandte er sich ab, und da stand sie, neben ihm.
    »Herrgott noch mal«, murmelte er. »Sie haben mich aber erschreckt.«
    Er hielt nach dem Messer Ausschau – dass er es nicht entdeckte, hieß noch lange nicht, dass sie es nicht bei sich hatte. In einem früheren Leben, unter einem früheren Regime wäre sie vermutlich eine Spionin (oder tatsächlich eine Meuchelmörderin) gewesen. Vielleicht war sie es auch jetzt.
    »Also, verrücktes russisches Mädchen«, sagte er, »wie geht’s?«
    Sie ignorierte ihn und reichte ihm wortlos ein Foto.
    Ein Mädchen, das irgendwo an einem Pier lehnte. »Ausflug nach St. Andrews«, sagte das verrückte russische Mädchen. Er konnte sie nicht ewig so nennen. Sie hatte gesagt – was hatte sie gesagt?
Fragen Sie nach Jojo.
Das klang ziemlich unwahrscheinlich. Der Name einer Prostituierten. »Wie ist Ihr richtiger Name?«, fragte er. Richtige Namen waren Jackson immer wichtig gewesen.
Ich heiße Jackson Brodie
.
    Sie zuckte die Achseln und sagte: »Tatiana. Ist nicht geheim.«
    »Tatiana?« Wie Titania? Er hatte Fotos von Julia als Königin der Elfen in einer Schulaufführung von
Ein Sommernachtstraum
gesehen, barfuß, nahezu nackt, das erstaunliche Haar offen fallend und mit Blumen geschmückt. Ein wildes Mädchen. Er wünschte, er hätte sie damals schon gekannt.
    »Ja, Tatiana.«
    »Und das Mädchen auf dem Foto?«
    »Lena. Sie ist fünfundzwanzig.«
    Auf dem Foto schien die Sonne, und der Wind blies dem Mädchen durch die Haare, die kleinen Kruzifixe in ihren Ohren waren gerade noch zu erkennen. Seine Meerjungfrau. Die Ähnlichkeit mit Tatiana war erstaunlich,

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