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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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man konnte ihn nicht mehr herausziehen, jedenfalls nicht ohne das eigene Herz in Stücke zu reißen. Sie küsste Jellybean auf den wackligen Kopf und spürte, wie ihr ein Schluchzer in den Hals stieg. Herrgott, Louise, reiß dich verdammt noch mal zusammen.
    Die Haustür wurde aufgerissen und wieder zugeknallt. Archies Weg durch das Haus war unterlegt mit dem Lärm der Dinge, die er hinwarf und fallen ließ und umrannte. Er war wie der Ball in einem Flipper. Er explodierte in die Küche, stolperte dabei fast über die eigenen Füße. Nach seiner Geburt hatte die Hebamme gesagt: »Jungen ruinieren einem das Haus, Mädchen den Kopf.« Archie schien erpicht, beides zu tun.
    Er schwitzte und wirkte unglücklich. Louise erinnerte sich an das Gefühl, wenn man mitten im Sommer eine Schuluniform anziehen musste. In England begann das neue Schuljahr im September, aber in Schottland hatte man es schon immer für eine gute Idee gehalten, die Kinder während der Hundstage wieder in die Schule zu schicken. Vermutlich etwas Presbyterianisches. Zweifellos hatte John Knox eines schönen Morgens im August aus dem Fenster geschaut, als gerade ein Kind mit einem Reifen – oder womit auch immer Kinder im 16. Jahrhundert spielten – die Straße entlanggelaufen kam, und gedacht: Dieses Kind sollte in einem heißen, luftlosen Klassenzimmer leiden in einer Uniform, in der es lächerlich aussieht. Ja, das sähe Knox ähnlich, dachte Louise. He, Knox, lass das Kind in Ruhe.
    Was war mit ihrem kleinen Jungen geschehen, war er von diesem Ungeheuer gefressen worden? Vor nicht allzu langer Zeit war Archie ein hübsches Kind gewesen – seidiges blondes Haar, runde Knuddelarme. Wenn sie ihn sich jetzt anschaute, seinen schlecht passenden Körper, der aus den wiederverwerteten Gliedmaßen anderer Leute zusammengesetzt schien, war es schwer vorstellbar, dass Frauen ihn jemals attraktiv finden könnten, dass er Sex mit ihnen haben, dass er fummeln, sich abmühen und in Ekstase geraten würde, dass er es mit Jungfrauen und verheirateten Frauen, mit Studentinnen und Verkäuferinnen treiben würde. Ihr tat das Herz weh angesichts seiner neuen Hässlichkeit, die irgendwie noch schmerzlicher wurde, weil er sich ihrer überhaupt nicht bewusst zu sein schien.
    »Was ist das?« Archie warf einen fragenden Blick auf die Untertasse mit Asche. Kein »Hallo, Mum«, kein »Wie war dein Tag?«.
    »Meine Mutter, was von ihr übrig ist.«
    Er brummte verständnislos.
    »Sie wurde letzte Woche verbrannt«, erinnerte ihn Louise. Eine öffentliche Zeremonie. Sie hatte Archie verboten, ins Krematorium zu kommen, sie hatte ihn von seiner Großmutter ferngehalten, als sie noch lebte, sie wollte nicht, dass er seine Zeit für sie verschwendete, jetzt, da sie tot war. Louise hatte sich den Vormittag freigenommen und einen Krankenhaustermin vorgeschoben. Es war erstaunlich, welche Lügen einem fraglos geglaubt wurden. Wenn man sich ihre Arbeitsakten ansähe, hätte man den Eindruck, dass ihre Mutter vor langer Zeit gestorben war. Alle ihre Bekannten glaubten, dass ihre Mutter bereits vor ewigen Zeiten gestorben war. »Für mich ist sie tot«, hätte sie gesagt, so man sie der Lüge bezichtigte.
    Archie nahm ihr die Untertasse aus der Hand und inspizierte den Inhalt. »Cool«, sagte er, »kann ich das haben?«
    Es war nicht seine Schuld (musste sie sich tagtäglich erinnern), dass ein unguter biologischer Imperativ ihn in eine Hormonfabrik verwandelt hatte, die Überstunden und Sonderschichten einlegte, um Unmengen von dem Zeug zu produzieren. Er hätte Fußball spielen sollen, Billard in einer kirchlichen Jugendgruppe, mit Armeekadetten eine Parade abhalten, alles, was die Schwemme an chemischen Stoffen in seinem Körper kanalisiert hätte, aber nein, er lag die ganze Zeit in der muffigen Höhle seines Zimmers, angeschlossen an seinen iPod, seine Playstation, seinen Computer, seinen Fernseher wie ein Hybride, halb Mensch, halb Roboter, der Elektrizität zum Leben brauchte. Bionischer Junge.
    Zumindest war er nicht drogensüchtig (noch nicht). Sie war sich ziemlich sicher, dass sie es merken würde. Ein bisschen Porno in Form von Zeitschriften – sie bezweifelte, dass er etwas vor ihr verstecken könnte, sie war ruchlos, sie war eine Expertin, sie war eine Mutter. Ein paar relativ harmlose Pornohefte, das war alles. Durchschnitt für einen Vierzehnjährigen, oder? Besser, realistisch zu sein, als drakonisch. Keine Pornografie im Internet, soweit sie wusste, außer er

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