Liebesdienste / Roman
erregen.
»Wahrscheinlich«, sagte sie.
13
M artin wurde es allmählich schlecht. Er hatte zu viele Minzbonbons gegessen, sonst nichts seit dem bescheidenen Stück Toast, das er am Morgen gefrühstückt hatte, in einem anderen Leben.
Er trat hinaus ins Freie, um Luft zu schnappen, und las den Busfahrplan. Er setzte sich auf eine Mauer, bis es anfing zu regnen, dann ging er wieder hinein und in die Krankenhauskapelle, die angenehm unaufdringlich war, eine Erleichterung nach dem ständigen Hin und Her, diesem Kern des Krankenhauslebens. Die ganze Zeit hatte er Paul Bradleys Reisetasche dabei. Sie war schwarz, aus einem billigen Kunstleder, das unerklärlich maskulin wirkte. Die Tasche sah eingefallen aus wie ein zahnloser Mund, und ihr seltsames Gewicht legte nahe, dass sich ein Ziegelstein oder eine Bibel darin befand. Er stellte sie auf den Stuhl neben seinem.
Martin wurde immer neugieriger auf den Fremden, auf den er so stoisch wartete, und je länger er wartete, desto heftiger nagte die Neugier an ihm. Vielleicht konnte er eine Erzählung daraus machen, womöglich einen Roman, einen ernsthaften Roman, nicht eine Nina Riley. Sich einen Plot ausdenken, der sich um einen geheimnisvollen Fremden rankte, der in die Stadt kam. Nein, das klang zu sehr nach
Für eine Handvoll Dollar
. Ein Plot um einen Mann, dessen Tag sich veränderte, der aus Anonymität und Unbekanntheit hineingezogen wurde in den Mittelpunkt eines unerwarteten Dramas. Etwas Existenzielles, Packendes (was Martins Erfahrung nach selten Hand in Hand ging). Wohin war Paul Bradley unterwegs gewesen, bevor sich sein Schicksal änderte? Es brauchte nur ganz wenig. Einen Mann, der vor deinen Augen vom Gehsteig trat. Ein Mädchen, das sagte:
Möchten Sie Kaffee?
Es brauchte nur ganz wenig, und ein Schicksal war für alle Zeiten ein anderes.
Martin fragte sich, ob er wirklich zufällig in die Kapelle geraten war. Und nicht deswegen, weil er wusste, dass es der ruhigste Ort im ganzen Krankenhaus war. Hatte ihn nicht die Versuchung wie irgendetwas vage Obszönes hierhergelockt, damit er nachsehen konnte, was in der Tasche war? War nicht Erkenntnis der Lohn der Versuchung? Eva, Adams ungehorsame Frau, wusste die Antwort. Ebenso Blaubarts ungehorsame Frau, namenlos wie seine eigene imaginäre Braut.
Doch er machte sich selbst was vor. Müsste er es nicht besser wissen? In St. Petersburg war er der Versuchung erlegen, und man schaue sich an, was passiert war. Erkenntnis war nicht notwendigerweise etwas Gutes. Man frage Eva. Es war falsch, in die Tasche zu schauen, daran führte kein Weg vorbei, moralisch war es absolut falsch, dennoch hatte sich die Idee in seinem Kopf eingenistet und war nicht mehr auszumerzen. Er hatte eine Verbindung zu Paul Bradley, er hatte ihm das Leben gerettet, womöglich war es das Beste gewesen, das zu tun ihm im Leben bestimmt war. Aber gestattete ihm diese Verbindung nicht, mehr in Erfahrung zu bringen? Man konnte der Versuchung ausweichen und sagen, nein, ich gehe nicht durch diese Holztür und kaufe mir eine Ludmilla oder Swetlana, aber dann gabelte man ein Mädchen an einem Matroschka-Stand auf.
Du bist eine willensschwache, vor Angst schlotternde kleine Memme, Martin.
Die blumige Sprache seines Vaters, bei welcher Gelegenheit? Er erinnerte sich nicht, wahrscheinlich als er bei den Armeekadetten rausflog, weil er den Hindernisparcours nicht überstand. Ein Mädchen namens Irina, die ganz blasse Haut hatte, die ihn Marty nannte.
Natürlich könnte es auch eine Geschichte über einen Mann wie Martin werden, einen Mann, der nichts erlebte – »Der Mann, der nichts erlebte«. Wie dieser Mann unerwarteterweise in das Leben eines anderen verstrickt wurde, wie er etwas in einer Tasche fand, was seine Welt für immer veränderte. Es war eine Lüge. Er belog sich, die ganze Zeit. Etwas hatte er erlebt. Einmal. Der
Zwischenfall
. Das Mädchen vom Matroschka-Stand hatte er erlebt. Einmal. Aber einmal war genug.
Die Kapelle war leer. Er vergewisserte sich mehrmals. Er fühlte sich, als wollte er in der Öffentlichkeit masturbieren – nicht dass er das jemals tun würde. Das Grauen, dabei erwischt zu werden. Dann, beiläufig, als wäre es seine eigene Tasche, aus der er etwas brauchte, zog er den Reißverschluss auf und schaute hinein. Ein Kulturbeutel, Unterwäsche zum Wechseln und eine Schachtel, das war alles. Die Schachtel war unauffällig wie die Tasche, aus hartem Plastik, narbig wie Orangenschale und mit stählernen Schließen.
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