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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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orangenmarmeladige Licht der Straßenlampe vor dem Fenster trugen zu Martins Gefühl der Entfremdung bei, als wäre er plötzlich in eine kranke Science-Fiction-Welt geraten, die von einer ökologischen Katastrophe heimgesucht wurde.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Paul Bradley.
    »Ja«, sagte Martin. Er trank einen weiteren Schluck der orangefarbenen Flüssigkeit. Sie schmeckte überaus eklig und doch seltsam verführerisch. Rasch und ohne Anzeichen von Unsicherheit zog sich Paul Bradley aus bis auf ein graues T-Shirt und graue Boxershorts. Edle teure Baumwolle, bemerkte Martin, obwohl er sofort den Blick abwandte und auf einen erstaunlich plakativen Druck der Schlacht von Culloden starrte, der über dem Bett hing – Leiber, die von Bajonetten und Schwertern durchbohrt wurden, aufgerissene Münder, purzelnde Köpfe. Als Nächstes lag Paul Bradley auf der orangebraunen Tagesdecke. Martin fragte sich, wann sie zum letzten Mal gewaschen worden war. Innerhalb von Sekunden entspannten sich Paul Bradleys Züge, er schlief.
    Martin ging ins Bad und schloss die Tür ab. Er versuchte, leise zu pinkeln. Dann wusch er sich die Hände und trocknete sie an dem dünnen Handtuch ab, das feucht war von Paul Bradleys Waschungen. Paul Bradleys Zahnbürste stand still in einem Glas neben den Wasserhähnen. Sie war alt, die Borsten, abgenutzt und schräg, Beweis für ein Leben vor ihrer merkwürdigen Begegnung. Der Anblick einer einzelnen Zahnbürste versetzte Martin immer einen Stich. Noch nie hatte er sein eigenes Bad betreten und zwei einander Gesellschaft leistende Zahnbürsten gesehen.
    Die Reisetasche stand auf dem Boden, weit geöffnet. Darin die schwarze Schachtel. Paul Bradley hätte sie doch gewiss nicht so stehen lassen, wenn sie etwas Intimes oder Illegales enthielte?, flüsterte Adams Frau ihm ins eine Ohr, und Blaubarts Frau wisperte drängend in das andere:
Nur ein kurzer Blick.
Und Pandora natürlich, nicht zu vergessen Pandora, die hinter ihm stand und sagte:
Mach die Büchse auf, Martin, was kann es schaden?
Er erinnerte sich vage daran, wie er als Kind
Take Your Pick
im Fernsehen gesehen und das Publikum den Kandidaten
Mach die Schachtel auf
zugeschrien hatte. Die Vernünftigen nahmen das Geld, die Spielernaturen öffneten die Schachtel. Martin öffnete die Schachtel.
    Im Inneren befand sich ein anthrazitfarbener harter Schaumgummi, worin eine Figur gelagert war – eine Golftrophäe, ein ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter großer, verchromter Golfspieler, der das Licht im Bad reflektierte wie ein Spiegel. Gekleidet in Golfhose, Pullover mit Rautenmuster und Schottenmütze, holte er zum Schlag aus, ein kleiner Ball lag für immer zu seinen Füßen. In den flachen Sockel war »R. J. Benson – 1938« eingraviert, aber es war nicht ersichtlich, bei welchem Turnier diese Trophäe verliehen worden war. Sie wirkte billig, ein Allerweltsding vom Trödel, dort gelandet nach dem Tod eines alten Mannes und der Entrümpelung seines Hauses. Die Sorte alter Mann, der allein lebte, mit nur einer Zahnbürste.
    Die Figur war nicht wertvoll genug, um eine so aufwendige Schachtel zu verdienen, zudem passte die Schachtel überhaupt nicht, sie war zu groß und ließ auf mehr Raum schließen. Nina Riley hätte den falschen Boden sofort entdeckt, aber Martin brauchte etwas länger. Er stellte den Golfspieler auf das Waschbecken neben das Glas mit Paul Bradleys einsamer Zahnbürste und rang mit dem anthrazitfarbenen Einsatz. Er fühlte sich klamm an wie der grüne Schwamm, in den seine Mutter Blumen steckte bei ihren nicht einmal halbherzigen Versuchen, ein kunstvolles Arrangement zu gestalten. Pandora, Eva, Blaubarts anonyme Frau und das gesamte geisterhafte Publikum von
Take Your Pick
standen in seinem Rücken und drängten ihn weiter. Schließlich gelang es ihm, den harten Schaum zu entfernen.
    Eine Pistole.
    Er hatte nicht damit gerechnet, doch als er sie sah, schien es absolut logisch.
    Die Tatsache, dass dort eine Pistole lag, war überwältigend, merzte jeden Gedanken an das Warum aus, raubte ihm buchstäblich den Atem, und er musste sich kurz am Waschbecken festhalten, bis er sich wieder gefasst hatte.
    Nicht irgendeine Pistole. Eine Welrod. Natürlich, das passte, ein ehemaliges Mitglied einer Spezialeinheit hätte eine Welrod. Sein Vater hatte widerrechtlich eine alte Welrod besessen. Er bewahrte sie in einer Schuhschachtel auf dem Kleiderschrank auf, am selben Ort, wo Martins Mutter ihre »Partyschuhe« aufbewahrte –

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