Liebesfluch
würde. Und dann sehe ich das Haus der Zeltners. Die vielen Glasfenster blinken und schimmern in der harten Mittagssonne wie Eis.
Bennie fängt an zu quengeln, er will noch mehr von dem Rosinenbrötchen. Erst jetzt denke ich wieder an seine kranke Schwester und frage mich, wie es ihr wohl geht.
Bei den Zeltners angekommen, hebe ich Bennie aus dem Kinderwagen und laufe mit ihm durch den Garten in mein Zimmer, wo ich die Tür offen gelassen hatte.
Irgendwas riecht hier komisch – oder riecht es hier immer so? Hoffentlich hat sich während meiner Abwesenheit keine Katze ins Haus geschlichen …
Ich lasse die Tür auf, damit es ordentlich durchlüftet, und gehe die Treppen nach oben. Mit jeder Stufe, die wir hochsteigen, verstärkt sich mein Gefühl, dass oben jemand auf uns wartet. Jemand oder etwas.
So ein Unsinn! Das muss an dem Durcheinander in meinem Kopf liegen, das die Zeitverschiebung angerichtet hat.
»Hallo?«, rufe ich, als wir oben angekommen sind, aber natürlich antwortet niemand.
Trotzdem kommt es mir so vor, als wäre jemand da. Vielleicht doch eine Katze, die neugierig ins Hausinnere gestromert ist. Ich schaue unter das Sofa, hinter die Türen. Einbildung, alles Einbildung, Blue.
Unwillkürlich presse ich Bennie fester an mich und mache mich in der Küche auf die Suche nach etwas Essbarem.
In einem Apothekerschrank finde ich Gläschen mit Babynahrung, die ich für Bennie im Wasserbad erwärme, weil ich nirgends eine Mikrowelle entdecken kann. Als sich der Deckel beim Drehen mit einem lauten Knacken öffnet, fahre ich erschreckt zusammen.
Blue, keep cool, ermahne ich mich und setze Bennie in den Hochstuhl. Während ich seine Füßchen durch die Halterung schiebe, fühle ich mich beobachtet.
Ich räuspere mich, um das abzustellen, und beginne, Bennie mit lauter Stimme zu füttern. »Einen Löffel für Grannie, einen für Mom, einen für Mia.« Plötzlich sehe ich wieder das Foto mit der Trauerschleife vor mir, nur dass mich diesmal die blauen Augen von Mia daraus anschauen. Ich kneife meine Augen zu, doch es hilft nicht und das Bild vermischt sich mit dem der alten Frau, die mich im Laden so feindselig angestarrt hat.
Ich lege den Löffel kurz ab, was Bennie mit lautem Protestgeschrei quittiert. Trotzdem massiere ich kurz meine Stirn und versuche, gleichmäßig zu atmen, dann nehme ich den Löffel wieder und füttere den Kleinen weiter.
Plötzlich spüre ich einen leichten Luftzug in meinem Nacken. Ich drehe mich um, aber da ist niemand. Blue, bitte! Reiß dich endlich zusammen! Du hättest vielleicht auf dem Flug hierher doch etwas anderes als ghoststories lesen sollen.
Nachdem Bennie die Portion aufgegessen hat, schaut er mich so enttäuscht an, dass ich ihm noch ein Gläschen Rindfleisch-Karotten-Pamps warm mache, und das teilen wir uns dann.
Als ich aufstehe und den Stuhl zurückschiebe, bin ich mir ganz sicher – diesmal hat sich jemand geräuspert. Und zwar weder Bennie noch ich. Jetzt reicht’s!, denke ich wütend und gleichzeitig läuft mir eine Gänsehaut über den Rücken. Ich packe Bennie, halte ihn wie einen Schutzschild fest in meinen Armen und gehe von der Küche in den Flur.
»Hallo?«, frage ich. »Hallo?«
Nichts.
Ich muss unbedingt Grandma mailen. Sie muss mich beruhigen, mir schreiben, dass es völlig normal ist, sich in fremden Wohnungen zu fürchten, weil man ihre Geräusche noch nicht kennt.
Mit Bennie auf dem Arm fühle ich mich mutiger und gehe wieder rüber ins Wohnzimmer.
»Hallo?«
Ich lausche eine Weile in die Stille, aber natürlich ist da auch niemand. Ich atme auf. In einem Horrorfilm würde mir jetzt doch noch eine süße schwarze Katze auf die Schulter hüpfen und mich zu Tode erschrecken. Grinsend klopfe ich Bennie den Rücken und mache mich auf den Weg zurück in die Küche.
Da, aus den Augenwinkeln heraus, da ist etwas. Ich bleibe stehen. Halte unwillkürlich die Luft an. Nein, da ist nicht etwas. Es ist genau umgekehrt. Es ist etwas nicht mehr da.
Ich starre wie gelähmt auf das Sideboard. Atme tief durch, dann gehe ich ein paar Schritte näher an das Schränkchen mit den Fotos.
Das Bild mit dem Baby ist weg. Das Bild, das Bennie so ähnlich war. Das mit der schwarzen Trauerschleife.
5.
Doch dein Leben war in Gefahr. Es gab nur einen Weg, dich zu retten, aber dieser Weg war so jenseits des Gesetzes, so jenseits von all dem, was ich für gut und richtig hielt, dass ich zunächst zögerte.
Ich umklammere Bennie so fest, dass er protestiert.
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