Liebesfluch
abgeflogen bin, das Gefühl angekommen zu sein.
Und das ausgerechnet in dem Wald, der mir am ersten Abend so unheimlich vorgekommen ist! Alles ist so still und friedlich hier. Ob Grannie hier auch manchmal mit Georg spazieren gegangen ist? Entspannt folge ich dem Weg und genieße die Luft, die immer kühler wird, je tiefer ich in den Wald hineinlaufe. Nach einer geschätzten halben Stunde haben wir den Brunnen erreicht.
Hey, das soll ein Brunnen sein? Was für ein Witz! Dieser Marienbrunnen ist nur eine rote Sandsteinplatte, aus der ein dünnes Wasserrinnsal tröpfelt. Ich beuge mich vor, um mir wenigstens das Gesicht zu kühlen.
Das Wasser riecht frisch und ein bisschen metallisch, so als ob es lecker schmecken würde. Ich nehme noch eine Handvoll, da dringt ein Geräusch an meine Ohren. Kein Zwitschern oder Rascheln. Etwas anderes. Klägliches. Wie ein kleines Kätzchen. Ich richte mich auf und sehe nach Mia, aber die schläft immer noch tief und fest.
Weit und breit ist niemand zu entdecken. Vielleicht kam das Geräusch aus dem Brunnen. Ja genau, Blue, es wohnen weinende Katzen und traurige Nymphen in dem Brunnen, mache ich mich über mich selbst lustig, nehme dann aber hastig den Kinderwagen und gehe mit zügigen Schritten den Weg zurück.
Nach ein paar Metern höre ich es wieder, diesmal ist es lauter und ich erkenne, was es ist. Da ruft jemand um Hilfe.
Ich versuche herauszufinden, aus welcher Richtung das Rufen kommt.
Ich fange an zu rennen, da wieder. Es klingt so jämmerlich, dass ich noch schneller laufe und hoffe, dass Mia nicht aufwacht, denn jetzt holpert der Wagen doch ganz schön über die Steine, die sich unter den Blättern befinden.
Noch eine Biegung, jetzt wird es lauter.
Dort vorne liegt jemand!
Sieht von Weitem aus wie ein Jogger. Er trägt Shorts und ein Muscle-Shirt. Als ich näher komme, erkenne ich, dass derjenige, der da am Boden liegt, ungefähr so alt sein muss wie ich, noch keine zwanzig.
»Was ist passiert?«, frage ich vollkommen außer Atem.
Der Typ ringt sich ein Grinsen ab und starrt mich flehend an. Seine sehr hohen Wangenknochen machen sein Gesicht ein bisschen leidend, dafür erinnert seine breite Nase, die in zwei kleinen Knubbeln ausläuft, ein bisschen an einen Clown. Er trägt für meinen Geschmack viel zu lange, buschige Siebziger-Jahre-Koteletten, aber wenigstens wird sein vorspringendes Kinn nicht von einem blöden Ziegenbart verunstaltet, so wie das von Vickys letztem Lover.
»Ich bin umgeknickt und dann blöd hingestürzt.« Er deutet auf seine Knie, die total aufgeschrammt sind, und sein linker Knöchel, der in einer roten Socke steckt, sieht geschwollen aus.
»Wenn ich aufstehe, wird mir total schlecht. Tut mir leid, ich bin sonst nicht so ein Weichei. Könntest du vielleicht mit deinem Handy Hilfe holen?«, fragt er mich. Seine Stimme ist tief und weich.
»Hab leider keins dabei.«
»Oh, schade«, murmelt der Typ, sieht aber nicht wirklich traurig aus. »Was machen wir dann?«
»Soll ich dir hochhelfen?«, frage ich. »Willst du dich auf mich stützen?« Während ich seinen durchtrainierten Körper mustere, stelle ich fest, dass er schon der zweite Junge in diesem Kaff ist, der wirklich gut aussieht – trotz seiner Koteletten!
Der Blick aus seinen braunen Augen bringt mich ganz aus der Fassung. Und er hat karamellfarbene glatte Schultern, muskulös wie ein olympischer Wettkampfschwimmer. Der Hammer! Blue, ermahne ich mich, der Typ ist verletzt.
»Danke für deine Hilfe«, sagt er mit einem derart verschmitzten Grinsen, dass ich gar nicht anders kann als zurückzulächeln.
Ich reiche ihm meine Hand und er kommt schwankend auf die Beine. Offenbar hat er wirklich starke Schmerzen, denn er zieht hörbar die Luft ein, dann stützt er sich schwer auf mich und humpelt mit mir zum Kinderwagen.
»Soll ich dir einen Stock besorgen?«, frage ich ihn. Er kann alleine kaum stehen und greift nach dem Griff des Kinderwagens, um sich daran abzustützen. Er nickt und schaut sich Mia an.
»Ich warte hier«, sagt er, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich eine Vision, wie er mit Mia im Kinderwagen davonrast, kaum dass ich im Unterholz nach einem Stock suche.
»Weißt du was«, sage ich, obwohl diese Vorstellung bestimmt der reinste Schwachsinn ist, »ich glaube, du solltest dich lieber hinsetzen. Ich gehe und hole Hilfe. Wie wäre das?«
Er sieht enttäuscht aus.
Ted Bundy, der gut aussehende Serienkiller, fällt mir nun
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