Liebeskind
gehabt haben. Ein Mann, dem scheinbar alles gelang, rief normalerweise immer Missgunst hervor, gerade in seinem Bekanntenkreis. Bisher hielten sich die Leute des Dorfes jedoch bedeckt. Weshalb sich Anna dachte, dass es an der Zeit war, die Maschener nun auch einmal persönlich kennen zu lernen, und sie mit einer Befragung von Angesicht zu Angesicht zu konfrontieren.
5
Elsa trug, was sie am liebsten hatte. Den eng geschnittenen weißen Mantel aus feiner Wolle, der ihr bis zu den schmalen Fesseln hinunterreichte. Robin würde beeindruckt sein. Robin, wie albern das klang. Nur weil ihre Mutter Vera damals, als sie schwanger war, einen Film über den Rächer der Enterbten gesehen und sich in den Darsteller verliebt hatte, war ihr Bruder nun mit diesem Vornamen gestraft. Einem Namen, der überhaupt nicht zu ihm passte. Schließ-lich war er schmächtig, kurzsichtig, kleiner als sie und von jeher ein Angsthase gewesen. Elsa war nun vor Robins Haus angelangt und drückte auf den Klingelknopf. Sie gähnte, obwohl sie lange geschlafen hatte. Zum Glück waren die gestrigen Kopfschmerzen heute kaum mehr zu spüren. Eigentlich spürte sie überhaupt nichts. Weder den Regen, der sich klatschend auf ihr Gesicht legte, noch den kalten Wind und auch keinen Hunger oder Durst, dabei konnte sie sich nicht daran erinnern, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte. Da war nichts als eine ungeheure Leere in ihr. Vielleicht war das nach den Anstrengungen der letzten Zeit aber auch ganz normal. Elsa erinnerte sich an die Geschichte eines Mannes, der tagelang allein auf einer Bootsplanke im atlantischen Ozean getrieben war. Als man ihn rettete, habe er nicht mehr gewusst, wie sich Glück anfühlt, hatte in der Zeitung gestanden. Er hatte gesagt, er sei jenseits aller Empfindungengewesen, er habe die Grenze überschritten. Was mochte dieser Mann gelitten haben, bevor er dazu gekommen war, einen solchen Satz zu sagen. Und da erwartete sie von sich, auf Kommando Freude empfinden zu können? Natürlich war es ein Grund zur Freude, dass Rainer und Torsten nun nicht mehr in der Lage waren, andere Menschen zu quälen. Wie wohl der Schiffbrüchige heute empfand? Bestimmt anders, ansonsten hätte er sich längst umgebracht. Elsa würde das niemals tun. Sie brauchte nur noch ein wenig Geduld, dann würde alles gut werden. Robin würde ihr dabei helfen, lang vergangene Ereignisse und ihr Leben, das ihr mittlerweile wie ein wirres Fadenknäuel erschien, neu zu ordnen. Mit seiner Hilfe würde sie den Anfang des Fadens finden, ihn in die Hände nehmen und neu aufrollen, sorgfältig und beständig. Und wenn sie erst einmal ihren Frieden mit Vera gemacht hätte, würde vielleicht auch das Lachen wieder zu ihr zurückkehren.
Elsa vernahm ein Summen in der Gegensprechanlage und stemmte sich gegen die dunkelbraune Eingangstür aus Holz. Als sie die erste der vier Treppen hinaufzusteigen begann, kam sie mit ihren Pfennigabsätzen auf einer der ausgetretenen Stufen ins Rutschen. Elsa ruderte mit den Armen, fing so den drohenden Sturz ab, landete aber trotzdem mit den Händen auf dem Boden. Das Holz fühlte sich glitschig an. Elsa überlegte, ob sie die hohen Schuhe ausziehen sollte. Aber war es angemessen, Robin nach all der Zeit mit nackten Füßen gegenüberzutreten? Nein, da würde sie schon lieber einen Sturz riskieren. Vorsichtig tastete sich Elsa voran und wäre, als sie endlich den Blick vom Boden lösen konnte, auf dem obersten Treppenabsatz beinahe mit ihrem Bruder zusammengeprallt.
Robin lächelte und strich ihr die Haare aus dem Gesicht.
„Was für eine Freude! Komm doch herein.“
Sie umarmten sich. Elsa fühlte seine Hände warm auf ihrem Rücken, nahm aber gleichzeitig einen unangenehmen Geruch nach gekochtem Kohl wahr, der aus seiner Wohnung in den Treppenaufgang drang. Erst jetzt bemerkte sie die nachlässig aufeinandergestapelten Pappkartons im Eingang hinter ihm, hier lud nichts dazu ein, genauer hinzuschauen. Sie zögerte, wäre am liebsten wieder umgedreht, doch schließlich folgte sie Robin durch den schmalen Flur in ein hell erleuchtetes Zimmer. Verschiedene Gerüche lagen hier übereinander und zeugten von vielen warmen Mahlzeiten, ohne dass zwischendurch einmal ein Hauch frischer Luft hereingelassen worden wäre. Zu viele Stunden musste ihr Bruder allein in diesen Räumen zugebracht haben. Und wie bei manchen alten Leuten schienen selbst die Tapeten Einsamkeit auszudünsten. Das meiste Mobiliar in Robins Wohnzimmer stammte aus dem
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