Liebeskind
würde ein anstrengender Tag werden, und Anna wickelte sich fester in ihren Mantel. Sie war müde und ihr war kalt, dabei hatten sie noch nicht einmal begonnen. Wenn wenigstens Weber da wäre. Anna zündete sich eine Zigarette an. Würde sie heute etwas zu hören bekommen, das sie in ihren Annahmen bestätigte? Und was, wenn sie sich irrte? Es gab so viele mögliche Mordmotive, die bei Männern wie Rainer Herold und Torsten Lorenz infrage kamen. Und doch sagte ihr ihr Instinkt, dass sie auf der richtigen Fährte war. Aber welchen Grund könnte die schöne Unbekannte für ihre ungeheure Zerstörungswut gehabt haben? Wo war das Motiv?
Plötzlich tauchte eine Tüte klebriger Pfefferminzbonbons vor Annas Nase auf. Sie starrte darauf, dann in das Gesicht von Sigrid Markisch.
„Ich habe gehört, dass Sie laufen“, begann sie in einem hellen Plauderton.
Anna kehrte ins Hier und Jetzt zurück und lehnte dankend ab.
„Ist schon vorgekommen.“
„Ich mache nächstes Jahr wieder beim Stadtmarathon mit.“
Anna schmunzelte.
„Ziemlicher Zeitaufwand, so etwas. Da muss man als berufstätige Frau andere Prioritäten setzen, als ich das mache. Sie haben keine Kinder, oder?“
Gerade kam ein Mann um die fünfzig im blauen Arbeitsoverall zur Tür herein und nahm vor dem Schreibtisch von Sigrid Markisch Platz. Anna beobachtete das grimmige Gesicht ihrer Kollegin, als diese anfing, ihre Fragen zu stellen. Der Mann antwortete immer leiser. Waren die Zickenbrille oder aber der Tonfall in ihrer Stimme schuld daran? Anna grinste. Auch wenn es ihrer weiteren Beziehung vielleicht nicht unbedingt förderlich war, das kleine Geplänkel mit der Giraffe hatte ihr gerade großen Spaß gemacht.
Nach ein paar Stunden hatten sie viele Gespräche geführt und doch nichts von Bedeutung erfahren. Immer bot sich ihnen das gleiche Bild. Torsten Lorenz, der verständnisvolle Chef, der nette Kerl von nebenan. Doch irgendjemand hatte das offensichtlich anders gesehen und ihn umgebracht. Als die Fabrik am späten Abend schloss, hatten sie noch nicht einmal die Hälfte der Belegschaft zur Sache befragt. Aber morgen war schließlich auch noch ein Tag, dachte Anna und wickelte sich ihren Schal fester um den Hals. Sie schaute Sigrid Markisch an und sehnte sich geradezu nach Weber.
Elsa in Maschen, im Winter 1984.
Wenn Elsa bei Possels klingelte, und Doreen hatte wieder einmal keine Zeit für sie, war es ihr, als fiele sie in ein dunkles Loch. Jetzt, wo sie endlich eine Freundin gefunden hatte, wusste sie mit sich allein nichts mehr anzufangen. Sie hielt sich am Türrahmen fest, sah neben Frau Possels Beinen zwei Paar schwarze Kinderlackschuhe in der Ecke auf der Matte im Flur stehen, und aus dem ersten Stock drang albernes Gelächter zu ihnen herunter. Frau Possel bedachte Elsa in solchen Momenten immer mit einem hilflosen Blick. So, wie man einen einäugigen Hund ansieht oder einen kleinen Vogel, der aus dem Nest gefallen ist und der verzweifelt nach seiner Mutter piepst.
„Es tut mir leid, Elsa“, sagte sie und es kam wie eine Formel aus ihr heraus. Doch bevor Frau Possel die Haustür wieder schloss, konnte Elsa sehen, dass sie es genauso gemeint hatte.
Dabei war am Anfang alles so schön gewesen. Jeden Nachmittag hatte Elsa bei Doreen gespielt. Sich kaum Zeit für das Mittagessen gelassen, nur damit sie beide so lange wie möglich zusammen sein konnten. Wenn es regnete, saßen die Mädchen in Doreens Zimmer auf dem wunderbar flauschigen Teppich und dachten sich Spiele aus. Elsa las im Gesicht ihrer Freundin, wie sehr sich diese über ihre Einfälle freute. Elsa war sehr erfinderisch und, wenn es um das Ausdenken immer kühnerer Spielregeln ging, unschlagbar. Meistens gewann sie auch, aber das hatte Doreen nie gestört. So war es nun mal im Leben, Doreen hatte diese fantastische Mutter, sie hingegen Glück im Spiel. Elsa gab wirklich ihr Bestes, nicht ohne ihre Freundin sein zu müssen. Dafür war sie sogar in den Turnverein eingetreten, auch wenn sie es hasste, am Reck herumzuhangeln oder über einen Kasten zu hechten. Am Schlimmsten war jedoch immer das Umziehen vor und nach dem Turnunterricht. Das Gefeixe der anderen Mädchen, wenn Elsa sich aus ihren Sachen schälte und hören musste, wie über ihre albernen gestreiften Unterhosen gelästert wurde. Doch ihre Fahrt mit dem Bus hin und zurück bot ihr genug Entschädigung für diese Kränkungen. Die beiden Mädchen nebeneinander auf dem Sitz, Elsas Hand in der von Doreen. Und dann
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