Liebeskind
bekommt. Dieser Kerl zahlt für uns, bis er schwarz wird. Der soll sich bloß nicht einbilden, dass er noch einmal ganz von vorne anfangen kann. Denn wenn ich erst mit ihm fertig bin, wird er keine Freunde mehr haben. Und zeig mir einmal die Frau, die sich dann noch mit ihm einlässt. Die müsste ja verrückt sein.“
Elsa wusste, dass es keinen Sinn machte, mit Vera zu reden, wenn sie in dieser Stimmung war. Deshalb ließ sie ihre Mutter in der Küche zurück, nahm den Brief und schloss sich im Bad ein. Elsa stellte das Radio an. Das Kuvert war zerknittert, so, als hätte es schon lang irgendwo in einer Schublade herumgelegen. Es war aber auch möglich, dass Vera es den ganzen Vormittag über in ihren Händen geknetet hatte. Viel Kraft musste es ihre Mutter gekostet haben, nicht hineinzusehen.
Liebe Elsa, las Elsa,
Tut mir leid, dass ich unsere Verabredung neulich vergessen habe. Pass gut auf deine Geschwister auf und gib ihnen einen Kuss von mir. Ich weiß, jetzt wird alles noch schwerer für dich werden, aber du schaffst das schon. In Gedanken bin ich immer bei euch.
Wir bleiben in Verbindung.
Dein Vater
Elsa untersuchte den Umschlag, doch da war nichts. Warum nur hatte Friedrich ihr nicht erklärt, wie es weitergehen sollte? War seine Wohnung nicht groß genug für sie beide, musste er zuerst noch etwas Passendes finden? Elsa hatte nie daran gezweifelt, dass ihr Vater sie nach einer angemessenen Zeit nachkommen lassen wollte. Sie hatte die vergangenen Wochen nur in der Gewissheit durchgestanden, dass es eine Zukunft für sie beide gab. Und nun schien es beinahe, als hätte Friedrich niemals vorgehabt, sie mit sich fortzunehmen. Sollte sie sich die ganze Zeit über so sehr in ihm getäuscht haben? Elsa fasste sich an die rechte Wange, wo ihr Feuerermal brannte, als hätte ihr Vater es angezündet.
Elsa hielt den Zettel mit Frau Possels Telefonnummer in ihrer Hand, aber noch zögerte sie. Es war nicht gut, Doreens Mutter in diese Geschichte mit hineinzuziehen. Eine Frau, die eine saftige Birne in mundgerechte Stücke zerteilen konnte, ohne dass diese hinterher zermatscht aussahen, hatte so etwas nicht verdient. Nie hatte Frau Possel, wie etwa Vera, tiefe Daumenabdrücke auf den Schnitzen hinterlassen. Bei ihr war alles appetitlich gewesen, genauso wie sie selbst. In Frau Possels Küche war das Leben gemütlich. Sie war die einzige von allen Müttern gewesen, die es verstanden hatte, einen Kakao zu kochen, ohne dass sich diese eklige Haut auf seiner Oberfläche gebildet hatte und der obendrein auch noch fantastisch schmeckte. Nie wieder hatte Elsa etwas so wunderbar Schokoladiges auf der Zunge gehabt. Warum gab es eigentlich keine Prüfung für Mütter? Es sollte nur solche wie Frau Possel geben.
Doch leider gab es keinen anderen Weg mehr für Elsa, um an ihre Freundin aus Kinderzeiten heranzukommen. Sie hoffte, Doreens Mutter würde sich keine Vorwürfe machen – hinterher, wenn alles erledigt war. Vielleicht würde Frau Possel sich selbst die Schuld am Tod ihrer Tochter geben. Möglicherweise würde sie sich daran erinnern, dass sie einer fremden Frau von einer Reinigungsfirma, die in Wirklichkeit überhaupt nicht existierte, Doreens Adresse verraten hatte. Vielleicht würde Frau Possel die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Aber auch wenn Elsa nicht gerade glücklich angesichts dieser Möglichkeit war, nahm sie nun den Hörer in ihre Hand und wählte die Nummer. Während sie dies tat, überlegte sie kurz, ob es nicht vielleicht besser wäre, ihre Stimme zu verstellen, entschied sich dann jedoch dagegen. Es war doch alles schon so lange her, und die alte Frau würde Elsa ganz sicher nicht wiedererkennen.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang brüchiger, auch viel älter, als Elsa sie in Erinnerung hatte, und doch wohlvertraut. Elsa konzentrierte sich und spulte ihren Text ab.
„Und jetzt kommt das Schönste, Frau Possel. Wir geben Ihnen außerdem die Möglichkeit, noch jemand anderem in Ihrer Familie eine Freude zu machen. Welches Ihrer Kinder hätte denn noch etwas Hilfe im Haushalt nötig?“
„Ja, ist denn das zu glauben, da wird sich meine Tochter aber freuen. Und diese ganze Aktion ist wirklich kostenlos?“
„Selbstverständlich, Frau Possel. Alles zur Feier unseres Firmenjubiläums.“
„Das ist ja wirklich eine gute Sache. Wenn ich das nächste Mal einen Staubsauger oder Ähnliches brauche, werde ich an Sie denken. Warten Sie, ich gebe Ihnen gleich die Telefonnummer meiner
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